Als die ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen durch das Fenster hereinschienen, schlug Legolas seine Augen auf. Er war noch genauso an den Mann gekuschelt, wie am Abend zuvor. Kurz hob er seinen Kopf und sah, dass Estel noch ruhig schlief.
Es war die erste Nacht seit einer längeren Zeit, in der er sich sicher gefühlt hatte und ihn auch kein Albtraum plagte. Noch etwas verschlafen legte er seinen Kopf wieder zurück und schaute aus dem Fenster, während er mit seinen Fingern über den dünnen Stoff von Estels Hemd fuhr. Die blonden Haare fielen ihm ein wenig wirr über die Schultern, während einige Strähnen im Gesicht hingen.
Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er spürte, wie eine warme Hand über seinen Rücken strich.
„Estel...", flüstere er und erhob sich etwas, um einen sanften Kuss auf den weichen Lippen des Mannes zu hinterlassen. Dieser umfasste Legolas' Wange und streichelte mit seinem Daumen leicht über die weichen Gesichtszüge.
„Man erin, Legolas (Guten Morgen, Legolas)", antwortete der Mann mit leiser Stimme und betrachtete den Elben mit einem Lächeln, bis er ihm einen erneuten Kuss gab. Da es noch relativ früh war, blieben sie noch etwas liegen und ruhten sich aus.
„Wir könnten heute Bogenschießen gehen", schlug Legolas dann plötzlich vor, als er seinen Blick auf das Fenster richtete. Estel folgte dem Blick und sah, dass das Wetter wirklich gut war.
„Das letzte Mal das ich Bogenschießen war, ist einige Jahre her, ich weiß nicht ob ich es noch kann", erwiderte der Mann. Er wollte Legolas nicht enttäuschen, weil er lange nicht mehr geübt hatte.
„Du hast das Bogenschießen in sehr kurzer Zeit gelernt und du bist besser als viele Elben, die Jahrhunderte Zeit hatten zu trainieren. Ich bin sicher, dass du es noch mindestens genauso gut kannst, wie beim letzten Mal", gab der Elb zurück und hielt seine Augen auf die grauen des Mannes gerichtet.
„Das hoffe ich, denn ich lerne vom Besten", sagte Estel und grinste.
Danach standen sie auf und zogen sich wieder ihre Tunika vom Vortag über die dünnen Baumwollhemden. Bei Frühstück trafen sie auf niemanden, Thranduil und Elrond schienen schon vor einigen Stunden gegessen zu haben und auch Otherion war nicht anwesend, das war er bisher bei kaum einem der gemeinsamen Essen.
Legolas ging dann direkt zur Waffenkammer, um einen perfekten Bogen für Estel zu finden. Er griff schließlich nach einem aus Eibenholz, der von goldenen Verzierungen bedeckt war. Die Sehne war dünn, man könnte denken, dass sie bei einer leichten Berührung reißen würde, doch sie war dehnbar und äußerst robust.
Der Elb reichte Estel noch einen gut gefüllten Pfeilköcher, mit hochwertigen Elbenpfeilen. Seine eigene Ausrüstung holte er aus einem speziellen Schrank in der Ecke des Raumes.
„Gut, ich denke das sollte gehen. Dann lass uns loslegen", sagte er und ging aus dem Raum. Der Mann folgte ihm mit einem Lächeln auf den Lippen. Er fragte sich, wie gut er noch schießen konnte, aber es gab nur eine Möglichkeit: Er musste es wieder ausprobieren.
Thranduil lief währenddessen in seinem Arbeitszimmer auf und ab, während Elrond am Schreibtisch saß und die zahlreichen Zettel zum hundertsten Mal las.
„Das macht einfach keinen Sinn, ich verstehe es nicht", sagte er und seufzte. Seit dem Vorfall hatten sie versucht, den Täter zu finden. Sie gingen die Namensliste durch und befragten viele der Leute im Palast, aber ohne Erfolg. Entweder log jemand so gut, dass die beiden es nicht erkannten oder die Person wurde nicht mit auf der Liste verzeichnet.
„Wir haben mit jedem gesprochen und die Liste wirklich hundertmal überprüft und dennoch, es ergibt einfach keinen Sinn. Derjenige kann ja nicht einfach verschwunden sein", sprach Thranduil und blieb vor dem Schreibtisch stehen, um ebenfalls einen der Zettel nochmals zu lesen.
„Nein, das kann er nicht. Entweder wir schaffen es noch die Person zu finden oder Legolas muss es uns erzählen. Aber das letzte Mal als ich ihn sah, wollte er sich nicht öffnen, selbst Estel erzählt er es nicht. Derjenige muss ihm mit etwas gedroht haben, weshalb er Angst hat, es zu sagen", begann der Lord Bruchtals.
„Das sieht ihm nicht ähnlich und das besorgt mich. Legolas war nie ängstlich gegenüber von irgendwelchen Leuten, zumindest nicht, dass ich es bemerkt hätte", antwortete Thranduil und starrte mit nachdenklichem Blick aus dem Fenster.
Klar, als Kind hatte Legolas öfter vor etwas Angst gehabt, was auch völlig normal ist. Der Düsterwaldkönig versuchte sich zu erinnern, ob er gegenüber von irgendwelchen Personen einmal Angst in den Augen des Elbenprinzen gesehen hatte, konnte sich aber keines Momentes entsinnen.
„Mir fällt tatsächlich niemand ein", sagte er schließlich und stützte sich mit seinen Händen auf die Lehne eines Sessels. „Legolas hat eine außergewöhnliche Schönheit, natürlich gibt es viele Männer die ihn begehren, aber keiner von denen würde sich auch nur im Ansatz trauen, so eine grausame Tat hier im Palast zu begehen", fügte er noch hinzu.
„Estel hat mich zusätzlich informiert, dass derjenige danach noch einmal hier war und er scheint einen großen Einfluss auf ihn zu haben, deswegen glaube ich, dass das nicht die erste Tat war. Vielleicht waren die vorherigen Taten nur nicht in dem Sinne körperlich", antwortete Elrond. „Und dir ist wirklich nie etwas aufgefallen?"
Erneut dachte Thranduil nach und wieder schüttelte er den Kopf.
„Vielleicht habe ich es auch einfach nicht erkannt, er war nie besonders offen zu mir. Meist hat er sich und seine Emotionen vor mir versteckt, aber ich kenne den Grund bis heute nicht", sprach der Düsterwaldkönig und senkte seinen Kopf.
„Und deshalb bin ich froh, dass er meinem Estel vertraut, wenn er nicht gewesen wäre, würde es Legolas jetzt ganz anders gehen. Die beiden stehen sich sehr nah", gab der Lord Bruchtals zurück und seufzte, während er sich daran machte, den Papierkram zu ordnen.
„Ich hatte schon seit Jahren das Gefühl, dass sich zwischen ihnen mehr entwickeln könnte, als eine Freundschaft und ich hatte recht. Sie passen perfekt zusammen, anders kann man es nicht sagen", sagte Thranduil.
Er war glücklich, dass Legolas endlich die Liebe gefunden hat, die er verdient. Estel hatte ihn vor allem nach der Sache nicht alleingelassen, blieb bei ihm und gab ihm Hoffnung.
Aragorn war da, wo andere ihn verlassen hätten und sie hatten gemeinsam so viel durchgemacht, dass sie dadurch nur noch mehr zusammenwuchsen. Für ihn hätte sein Sohn keinen besseren Partner wählen können.
Auch wenn Legolas es ihm noch nicht erzählt und damit bestätigt hat, waren die Blicke, die sie sich teilten, als Thranduil sie heute Morgen sah, fast Beweis genug.
„Wir kommen so nicht weiter. Vielleicht sollte ich Otherion nochmals eine Liste erstellen lassen oder er überprüft sie noch einmal, vielleicht hat er einen Namen vergessen", schlug der König vor und half Elrond dabei, die vielen Zettel zu ordnen und zu stapeln.
„Ich glaube zwar nicht, dass er jemanden vergessen hat, aber einen Versuch könnte es wert sein. Ich werde dann mit Estel sprechen", antwortete der Lord Bruchtals und erhob sich von dem schweren Stuhl.
Sein langes Gewand glitt elegant über seine Schultern, während er den Raum verließ, um seinen Sohn zu suchen.
„Siehst du? Das war gut, Estel!", rief Legolas, während er einige der Pfeile von den Zielscheiben einsammelte und sie wieder zurück in den Köcher steckte.
Der Mann hatte tatsächlich jede Zielscheibe getroffen, sogar die pendelnde. Auch wenn die meisten Pfeile nicht in der Mitte landeten und der auf der beweglichen Scheibe nur knapp den Rand traf, zielte er wirklich gut.