___Kapitel 1 - Sandra

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"Liebes, bist du schon wach?" rief mir von unten meine Mom zu. 

"Ja, bin ich!" rief ich zurück und rieb mir über die Augen. Doch schließlich stieß ich seufzend die Decke bei Seite und schwang die Beine über die Bettkante. Es war das erste Wochenende, das ich wieder zu Hause verbracht hatte, als ich endlich aus der Psychiatrie durfte. Der Vorfall, meine Entführung, war inzwischen schon über ein Jahr her. In der Zeit hatten meine Eltern ein neues Haus gekauft und waren mehr in die Innenstadt von Laguna Beach gezogen. Meine alte Schule lag eine halbe Stunde von hier entfernt in Los Angeles, also musste ich die Schule wechseln. Und heute war mein erster Schultag. Meine Eltern hatten mir angeboten eine Privatlehrerin zu holen, aber ich wollte mich nicht vor der Menschheit verstecken. Also ging ich in die Schule. Es war eh mein letztes Jahr, das würde ich schon überstehen. 

Aus meinem Kleiderschrank zog ich eine blaue Jeans, ein weißes Top und Unterwäsche, damit ging ich dann schließlich ins Bad. Ich duschte rasch, föhnte mir anschließend meine dunklen Haare und schlüpfte in die Sachen. Ich trug ein wenig Eyeliner und Mascara auf, dann schlüpfte ich in meinem Zimmer noch in meine Wanderstiefel und in mein dunkelblaues Sweatshirt. Oder sollte ich lieber sein Sweatshirt sagen? Damals, dieser Junge mit den klaren braunen Augen und ebenso braunen Haaren, da hatte er mir sein Sweatshirt übergezogen, als er mich gerettet hatte. Doch ich wollte nicht weiter an diese schreckliche Zeit denken. Also nahm ich mir meine braune Umhängetasche und warf sie mir über. 

"Morgen Mom" grüßte ich sie und ließ mich sanft von ihr in die Arme schließen. 

"Morgen Schatz. Iss bitte etwas, bevor du gehst" sagte sie liebevoll und schob mir eine Schüssel Jogurt mit frischem Obst hin. Ich nahm die Schüssel nickend entgegen und fing an zu essen, als dann auch noch mein Dad in seinem schicken Anzug in die Küche kam.  

"Guten Morgen Engel" begrüßte auch er mich, nur nahm er mich nicht in den Arm. Eigentlich verlief er es, mich zu berühren, aber nicht weil er mich nicht lieb hatte, sondern weil er Angst hatte. Angst davor, das ich Angst vor ihm bekam. Ich erwiderte also sein lächeln und aß dann schnell fertig. Wenn Frauen mich berührten oder kleine Kinder, egal ob Mädchen oder Junge, da hatte ich kaum bis gar keine Angst, nur bei Männern hatte ich noch so meine Probleme. 

"Ich geh dann" sagte ich schließlich, nachdem ich die Schüssel und den Löffel in die Spülmaschine geräumt hatte. 

"Okay, aber du weißt, du kannst jeder Zeit einfach nach Hause kommen, sollte was nicht stimmen" sagte meine Mom noch mal besorgt. Ich nickte ihr lächelnd zu und winkte beiden, dann ging ich raus und setzte mich in meinen gelben Camaro. Jaja, total bonzen und so, aber meine Eltern hatten darauf bestanden ihn mir zu kaufen und ich hatte nicht abgelehnt. Ich stieg also ein und fuhr die fünfzehn Minuten bis zur Schule. Eine richtig reiche Schule für reiche Kids. So wie ich. Ich parkte so weit wie möglich vorne, so nah am Eingang wie es ging, damit ich schnell nach drinnen flüchten konnte. Immerhin fand ich einen Parkplatz und bevor ich Ausstieg, atmete ich noch mal tief durch und zog mir die Kaputze des Sweatshirts über. In der linken Tasche war bereits ein Loch und die Farbe war auch schon ein wenig ausgewaschen, aber das kam eben davon, wenn man eine Sache Tag ein Tag aus trug und nur weglegte, um sie zu waschen. Es mochte verrückt klingen, aber wenn ich das Sweatshirt trug, fühlte ich mich sicher. Ich raffte all meinen Mut zusammen und stieg aus. Ein paar Blicke lagen auf mir, wahrscheinlich aber überwiegend wegen meinem Auto, andere hingegen interessierten sich nicht für mich. Wie zum Beispiel die Cheerleader-Football-Clique. Dann gab es noch die Freaks, die Streber, die Künstler, Musiker, Emos und die Normalos. Die Schule war also klar aufgeteilt. Am liebsten hatte ich darüber die Augen verdreht und gestöhnt, und ich war auch gerade dabei es zu machen, als mein Blick bei den Footballern hängen blieb. Oder eben bei drei ganz bestimmten. Den einen konnte ich von vorne sehen, die anderen beiden drehten mir den Rücken zu. Sie lachten lauthals los, doch dann, als dieser Kerl mit den etwas längeren schwarzen Haaren und der bleichen Haut zu mir sah, verging ihm das lachen. Er sah mich lange an, was den anderen beiden auch auffiel, denn auch sie drehten sich jetzt zu mir um. Und da sah ich dann tatsächlich wieder in diese klären braunen Augen. In seine Augen. Mir blieb die Luft weg und ihm schienen fast die Augen aus dem Kopf zu fallen. Ich sah ihn noch lange an, zupfte an gelösten Fransen am Sweatshirt herum, das ja eigentlich ihn gehörte. Als mir das durch den Kopf schoss, senkte ich schnell den Blick, zog die Kaputze tiefer ins Gesicht und machte mich dann auf den Weg ins Sekretariat. Oh man ... Er war es wirklich gewesen! Mein Atem ging schneller und ich spürte, wie sich meine Sicht verschleierte. Ihn zu sehen, das ... erinnerte mich an die Zeit zurück. Die Erinnerungen griffen nach mir, wollte mich zurück in die Fabrik zerren. Schnell flüchtete ich in die Toiletten und klammerte mich ans Waschbecken. 'Nicht weinen, bloß nicht weinen! Du bist hier, nicht dort ... beruhig dich' sprach ich mir in Gedanken selbst zu und langsam regelte sich mein Atem wieder. 

"Hey, alles okay?" fragte hinter mir jemand. Erschrocken fuhr ich herum, ich hatte gar nicht gehört das eine Kabinentür aufgegangen war. Vor mir stand ein Mädchen, etwas kleiner als ich, mit blonden kurzen Haaren und blauen Augen. 

"Ehm, ja" brachte ich bloß heraus und strich mir eine Haarsträhne hinter die Ohren. Sie nickte, auch wenn sie mich leicht skeptisch ansah. 

"Du bist die Neue hier, richtig?" fragte sie dann direkt weiter. Ich nickte bloß. 

"Cool, dann bist du in meiner Klasse. Soll ich dich ins Sekretariat bringen?" fragte sie, während sie sich neben mir die Hände wusch. 

"Ja, das wäre sehr nett" sagte ich zaghaft und lächelte sie an. 

"Okay, dann komm. Ich bin übrigens Lena" sagte sie und wies mir an, ihr zu folgen, was ich dann auch tat. 

"Sandra" murmelte ich bloß. Wenig später hatten wir dann das Sekretariat erreicht und gemeinsam traten wir hinein.

Wenn die Vergangenheit dich einholt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt