Am Ende des Regenbogens

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Wattpad Star: MagdalenaEfrt


Es war ungewöhnlich, dass im Sankt-Anna-Heim für Waisenkinder eine Party stieg. Noch ungewöhnlicher aber war die Tatsache, dass es sich dabei um eine Halloween-Party für die zweiundvierzig Waisenkinder handelte. Am aller ungewöhnlichsten aber war der Gast, der unbemerkt von allen zur Hintertür hereingekommen war.

Der Neuankömmling war nicht verkleidet. Für derartigen Firlefanz hatte es keine Zeit und darüber hinaus wäre dies sowieso unnötig für ein Wesen seiner Art.

Die Tische, an denen die Waisenkinder sonst ihre Mahlzeiten einnahmen, waren an die Wand geschoben worden. Muffins, Kekse und andere Süßigkeiten standen in Schüsseln und Schälchen verteilt darauf – oder was nach dem ersten Ansturm der Kinder davon übrig geblieben war. Aber auch für diese Art von Köstlichkeiten interessierte sich der neue Gast nicht.

Aus den Lautsprechern an der Decke ergoss sich nicht die übliche Sonntagsansprache von Frau Doktor Mussberger, der Heimleiterin, sondern Musik. Wummernde Bässe und schnelle Elektrobeats. Ein als Zombie verkleideter Junge mit roten Flecken auf Haut, Haar und Hemd bediente die Musikanlage. Ein paar Kinder tanzten im dämmrigen Licht. Frau Doktor Mussberger war nirgends zu sehen, dafür aber der Praktikant, auf dessen Mist diese Idee gewachsen war, und die jüngeren Erzieherinnen.

Der Neuankömmling betrachtete die im Stroboskoplicht tanzenden oder in kleinen Grüppchen zusammenstehenden Jungen und Mädchen. Was er suchte, fand es jedoch nicht.

Zombies, Monster, Hexen, Geister. Aber kein Kobold von der Größe eines Kleinkinds. Diese Menschlinge waren alle größer. Immerhin eines der Waisenkinder trug einen grünen Anzug, stellte sich aber bei näherer Betrachtung als Peter Pan heraus. Das Einhorn trabte auf die Tische zu und schnupperte. Mit dem Vorderhuf lupfte es die bodenlange Tischdecke und schaute darunter. Aber auch dort hatte sich dieser verflixte Kobold nicht versteckt. Das Einhorn schnaubte. Heute steckte jedoch keiner der beiden dort, wo sie hingehörten und wo das Einhorn sie brauchte: Am Ende des Regenbogens. Mit dem Wegnehmen des Goldtopfes war der Regenbogen verschwunden und damit die Brücke, die zurück ins Land der Phantasie führte. Es saß in der Menschenwelt fest. Ausgerechnet an Samhain, dem Tag, an dem Kobolde frei zwischen den Welten umherspazieren durften. Der kleine, grüne Kerl konnte überall sein. Das Einhorn seufzte erneut und schaute sich um. Es brauchte Hilfe, wenn es den Kobold noch rechtzeitig finden wollte – und das musste es einfach. Aber keines der Kinder schaute in seine Richtung. Vielleicht musste man sie ein wenig anstupsen?

Das Einhorn näherte sich einem menschlichen Monster und blieb direkt vor dem Jungen stehen. Jemand hatte ihm mit schwarzer Schminke eine Narbe auf die Stirn gemalt und grünen Glibber auf seinen Wangen verteilt. In den schwarzen Haaren steckte ein Haarreif mit Monsterohren, aber der Junge sah weder etwas noch hörte er die gewieherte Begrüßung des Einhorns vor sich.

„Hallo Menschenmonster! Kannst du mir helfen?"

Er starrte wortlos auf die beiden Mädchen und den Jungen, die ein paar Meter weiter an der Wand standen und sich miteinander unterhielten.

Das Einhorn stupste seine Nase sachte in den Bauch des Jungen. „Hallo! Du da! Kannst du mich jetzt hören? Oder sehen?"

Das Fabelwesen in Not wartete ein paar Sekunden, aber nichts geschah.

Es seufzte. Dann eben eines der anderen Kinder. Wegen eines Fehlschlags würde es die Hoffnung nicht gleich aufgeben. Ein Mädchen in einem schmutzig weißen Kleidchen näherte sich dem Buffet. Allein. Das war die Chance. Das Einhorn trabte auf das Kind zu und erreichte es gerade, als das Mädchen sich einen Keks schnappte. Immerhin hielt sie in der Bewegung inne und rümpfte die Nase. Dann hob sie die Süßigkeit an die Nase und roch daran.

Geistertanz - Eine Anthologie zu HalloweenWhere stories live. Discover now