Ich sah nicht nach unten, sondern presste mein Gesicht stattdessen an seine Schulter, sodass meine Augen blockiert waren.
Der eiskalte Wind fuhr mühelos durch den Baumwollstoff bis auf meine Haut. Zudem bekam das leichte Auf und Ab des Fluges meinem Magen nicht. Die Übelkeit kehrte zurück. Wie lange es dauerte, konnte ich schlecht beurteilen – schließlich erschütterte mich ein Ruck und ich schlug die Augen auf. Liam war gelandet. Direkt am Waldrand.
So schnell ich konnte, befreite ich mich und kam taumelnd zum Stehen. Auf mehr engen Körperkontakt mit meinem Entführer konnte ich gut verzichten, vielen Dank auch.
„Wie lautete nochmal das Rätsel?", fragte er.
„ Eins zu zwei. Schau der roten Sonne nach. Dunkelheit. "
Er schwieg und starrte grimmig ins Leere. Ich glaubte die Zahnrädchen hinter seiner gerunzelten Stirn zu hören.
Trotzdem hatte ich noch Hoffnung: „Weißt du wohin wir müssen?"
Widerwillig schüttelte er den Kopf.
Mein Blick fiel auf das Mädchen, das gerade aus dem See kletterte. Die Kleidung klebte ihr triefend am Körper, nur ihr helles Haar war oberhalb des Kinns trocken geblieben. Um ihren Hals lag in einer lockeren Schlinge ihre Begleiterin – eine dunkle Schlange mit hellen Flecken und Schuppen, die im Mondlicht sanft glänzten. Im Maul des Tiers steckte der Zettel. Zielstrebig ging das Mädchen am Waldrand entlang. Bis zu einem Baum, der aus drei zusammengewachsenen Bäumen bestand. Dort drang es in den Wald ein.
„Ich wette die zwei wissen, wohin sie müssen", murmelte ich. Am liebsten wäre ich ihnen gefolgt. Aber das wäre geschummelt. Andererseits – in den nächsten Stunden zu sterben war auch keine gute Option. Spontan lief ich ihnen nach.
Die Schritte hinter mir verrieten, dass Liam mir folgte.
Ein letztes Mal bäumte sich mein Gewissen auf. Ich beruhigte mich mit dem Gegenargument, dass die Alternative der Tod war, solange ich nicht imstande war, mein eigenes Rätsel zu lösen. Also folgte ich dem Mädchen so leise wie möglich. Ich war erst ungefähr zehn Meter weit gekommen, als ich Liam unterdrückt fluchend hörte.
Ein schneller Schulterblick offenbarte die Schwierigkeiten, die er dabei hatte, mit Flügeln zwischen den vielen Zweigen hindurch zu kommen. „Willst du lieber zurückbleiben?", flüsterte ich.
„Nein! Geh weiter, sonst verlieren wir sie noch", zischte er.
Mit Blick nach vorn glitt ich weiter unter und über Hindernisse hinweg und versuchte meine Mitschülerin gerade noch zu sehen, ohne dabei von ihr gesehen zu werden. Nach einiger Zeit hörte ich, dass sie murmelnd Schritte zählte.
Liam fiel hinter mir immer weiter zurück, doch ich gab die Verfolgung nicht auf. Bei Schritt siebenhundertfünfundzwanzig blieb sie endlich stehen.
Da war ein schwarzer Baum, dessen tote Äste in den Himmel ragten. Kein einziges Blatt hing an den Zweigen. Die Rinde fehlte. Nur glattes, verblichenes Holz, das an mehreren Stellen vom Wetter aufgerissen worden war.
Das Mädchen suchte den Baum ab. Es tastete über seine Oberfläche, ehe es sich den Wurzeln zuwandte. Die Minuten verstrichen. Schließlich förderte es ein kleines Säckchen zutage und stieß einen Triumphschrei darüber aus. Die Schlange senkte ihren flachen Kopf und züngelte über dem Fund. Mit zitternden Fingern öffnete das Mädchen den Beutel und sagte zu seiner Schlange: „Hinter der singenden Quelle ist die Lösung nicht mehr fern. Was soll das schon wieder bedeuten?"
Die Stimme der Schlange war trocken und kaum zu vernehmen. „Ich bin mir nicht sicher."
Hinter mir ertönte ein lautes Knacken. Das Mädchen und ihre Schlange sahen sofort in meine Richtung, konnten mich in der Dunkelheit hinter den Zweigen aber anscheinend nicht sehen. „Wer ist da?" Die Augen des Mädchens wanderten über das Gestrüpp um mich herum. Nun da das Gesicht vom Mondschein getroffen wurde, fuhr mir das Wiedererkennen in den Leib. Es war eine von Isabellas Gefolgsleuten. Ida.
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Nora's Halloween
FantasyDie sechzehnjährige Nora hätte nie gedacht, dass dieses Halloween sie in eine andere Welt zerren würde - eine Welt voller Gruselgestalten, Hinterlist und Magie. Wenn sie jemals ihre Freiheit zurückerlangen will, muss sie die Wette mit dem Meister de...