»Semyr, Tia -«
»Geh!«, befahl Semyr. »Geh und versteck dich.« Er half mir in den Fensterrahmen. »Beeil dich.«
Mein Herz begann schneller zu schlagen, je lauter die Schritte wurden. Ich ging in die Knie, so weit ich es auf der Fensterbank wagte. Meine Zehen hingen ins Leere, unter ihnen die klaffende Tiefe der Häuserschlucht. Mein ganzer Körper spannte sich an, und ich spürte eine Kraft in meinen Beinen, die nicht länger nur meine eigene war.
Dann stieß ich mich ab, sprang nach oben -
Und erreichte den Rand des Dachs mit meinen Händen. Ich ignorierte das Brennen in meinen Schultern und zog mich mühelos daran hoch. Kaum, dass ich sicheren Grund unter meinen Knien spürte, legte ich die Handflächen aneinander, um Hana zu danken.
Von meiner Position aus hatte ich einen Blick auf Ailas Wohnbereich – zumindest auf den winzigen Ausschnitt, der sich direkt hinter dem Fenster befand. Semyr war von dort verschwunden. Womöglich wollte er nicht die Aufmerksamkeit des Unnen auf die Öffnung lenken.
Wieder ertönte dessen Stimme, doch sie war noch immer undeutlich. Ich glaubte, den Namen Newton zu hören – ein typischer Name von der anderen Seite des Reiches.
Ein kleiner Teil von mir drängte mich dazu, das Weite zu suchen. Nach all den Jahren, in denen ich diese Stadt nun schon bereist hatte, hatte ich hier noch nie einen Unn gesehen. Obwohl Tara'an im Osten und Unn im Westen der Insel vor zwanzig Jahren zu einer Nation vereint worden waren, hielten sich die Menschen für gewöhnlich nur in ihren eigenen Städten auf – so, wie die meisten Crae ihre Siedlung niemals verließen.
Es war die Neugierde, die mich dazu brachte zu bleiben – gemischt mit der Hoffnung, dass Newton wieder verschwinden würde, wenn er feststellte, dass Aila keine Crae beherbergte.
Viele hielten unsere bloße Existenz für einen Mythos. König Khalid von Tara'an war stehts darauf bedacht gewesen, uns aus seinen Schlachten herauszuhalten. Nachdem er Unn vor zwei Jahrzehnten ganz ohne Unterstützung der Crae eingenommen hatte, hatte sich das Königshaus die größte Mühe gegeben, sämtliche Gerüchte über uns im Keim zu ersticken und jegliche Aufzeichnungen über uns verschwinden zu lassen. Es dürfte nicht viel brauchen, um ihn davon zu überzeugen, dass er hier auf niemanden wie mich stoßen würde. Das redete ich mir zumindest ein – bis mir etwas einfiel, das eine brennende Hitze in mir hochsteigen ließ.
Der Tee. Die Tassen. Vier an der Zahl – für drei Ta'ar.
Ich schluckte. Würde er sie bemerken? Würde er einen Schluss daraus ziehen?
Ich versuchte, meine Angst herunterzukämpfen. Eine vierte Tasse konnte alles Mögliche bedeuten. Sie konnte von einem Gast stammen, der bereits gegangen war. Einem gewöhnlichen Gast. Einer Ta'ar. Keiner Crae. Newton könnte davon ausgehen, dass alles mit rechten Dingen zuging.
»In dieser Stadt gibt es keine Crae«, drang Semyrs Stimme laut und deutlich an meine Ohren. »Und schon gar nicht in diesem Haus.«
Der andere Mann sagte etwas.
»Niemand weiß, wo ihre Siedlung ist«, erwiderte Semyr ungeduldig. »Und das ist auch gut so.«
Erschrocken riss ich die Augen auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was auch immer die Frage gewesen ist ... das war die falsche Antwort.
Um mich zu beschützen, hätte er mich – mein ganzes Volk – leugnen müssen. So wie alle anderen, denen noch nie ein Crae begegnet war. Wenn er davon sprach, dass es hier niemanden wie mich gäbe, dann ...
Dann war das ein Zeichen für die Unnen, dass er Bescheid wusste. Dass er bereits Crae – Angehörige eines Volkes, das in den meisten Köpfen in Vergessenheit geraten war – getroffen hatte. Dass er sie anlog.
DU LIEST GERADE
Thron aus Sturm und Sternen: Seelendonner
Fantasy"Jeder hat eine bestimmte Rolle im Leben. Aber welche war meine? Die der Verräterin? Der Mörderin?" Als ein Krieg um den Thron ausbricht, gerät Kauna aus dem längst vergessenen Stamm der Crae unfreiwillig zwischen die Fronten: auf der einen Seite de...