Kapitel 21

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„Du mieses Arschloch", zischte Nick gefährlich leise. Und schon landete seine Faust in Tims Gesicht.

Tim taumelte zurück, konnte sich aber auf den Füßen halten. Langsam hob er die Hand, schlug aber nicht zurück, sondern fasste sich vorsichtig ins Gesicht. Tastete, ob er verletzt war und blickte seinem Bruder fest in die Augen. Wartete darauf, dass er erneut zuschlug. Keine Sekunde später hatte er wieder Nicks Faust im Gesicht. Es knackte. Blut floss aus Tims Nase. Ich hörte einen Schrei. Oder vielleicht war auch ich es, die schrie. Jemand berührte mich sanft an der Schulter. Fast zu sanft, um es in meinem Schockzustand wahrzunehmen. Aber doch fest genug, um mich daraus zu befreien. Ich stürzte nach vorne zwischen die beiden. Gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Nick Tim erneut schlug. Ich versuchte Nicks Hand zu fassen zu bekommen, aber er war zu schnell. Er traf mit seiner Faust auf meine flache Hand. Im selben Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck von wütend zu schockiert. Er riss die Augen auf, als er realisierte, dass er mich statt seinem Bruder getroffen hatte. Wieder stand alles für ein paar Sekunden still, in denen mich Nick anstarrte. Ich sah die Wut, die Enttäuschung, den Schmerz in seinen Augen. Dann drehte er sich um und ging.

Um mich herum begann die Welt sich wieder zu drehen. Emma und Caro waren plötzlich bei mir. Vermutlich war es auch eine von ihnen, die mich zuvor berührt hatten. Sie führten mich zum Sofa, Caro reichte mir ein Taschentuch. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich weinte. Jimmy und ein paar andere waren bei Tim und kümmerten sich um sein Gesicht. Irgendwer brachte ihm ein Kühlpack. Ich glaubte es war Jana. Vermutlich würde sie nie wieder bei einer unserer Partys auftauchen, nachdem sie eben Zeugin der letzten fünf Minuten geworden war.

Die letzten fünf Minuten...

Tim hatte mich beim Flaschendrehen geküsst. Vor all unseren Freunden. Vor seinem Bruder und meinem Freund. Und ich hatte den Kuss erwidert. Ich hatte Nick mit seinem Zwillingsbruder betrogen. Vor seinen Augen. Und Nick war ausgeflippt. Er war wütend. Zurecht. Und er hatte seinen Bruder geschlagen. Mehrmals. Er wollte ihn nochmal schlagen, aber ich war dazwischen gegangen. Warum hatte ich das getan? Ich wollte, dass Nick sich beruhigte. Er würde jeden Schlag gegen seinen Bruder später bereuen. Egal wie wütend und eifersüchtig er war, es war immer noch sein Bruder. Ich wollte aber auch Tim vor weiteren Verletzungen beschützen. Und verhindern, dass er doch zurückschlug. Warum hatte er sich nicht direkt gewehrt? Hatte er ein schlechtes Gewissen? Scheiße. Ich sollte ein schlechtes Gewissen haben.

Schnell sprang ich auf und sah mich nach Nick um. Wohin war er gegangen? In den Garten? Ich rannte hinaus und suchte den dunklen Garten nach meinem Freund ab. Mein Freund. Scheiße, war er das überhaupt noch? Wollte er noch mein Freund sein?

Er musste doch irgendwo hier sein. Hinten bei der alten Hollywoodschaukel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich rannte auf Nick zu. Noch bevor ich ihn ganz erreicht hatte, sagte er mit bestimmter Stimme: „Nein." Ich verlangsamte, aber ging weiter. „Lass mich in Ruhe." Diesmal war seine Stimme etwas zittriger.

„Nick, ich ... es tut mir leid.", stammelte ich.

„Bitte, Isabella." Er holte Luft. „Geh einfach."

Er hatte mich Isabella genannt. Seit wir uns kannten hatte er mich nie mit ganzem Namen angesprochen. Ich war immer Isi für ihn. Erst Isi, die beste Freundin und in den letzten Monaten seine Isi. Erneut kamen mir die Tränen. Es war wohl vorbei. Wenn ich nicht mehr Isi für ihn war, war es wohl endgültig vorbei. Und es war ausschließlich meine Schuld.


Die Erinnerungen schossen in meinen Kopf. Die Bilder der Auseinandersetzung zwischen Nick und Tim. Die Geräusche der Schläge und meines Schreis. Das Gefühl der Machtlosigkeit in meiner Schockstarre. Alles war in diesem Moment wieder so präsent. Die Panik, das gleiche wieder zu erleben, zu fühlen, breitete sich rasend schnell in meinem Körper aus. Schneller war nur der Drang, genau das zu verhindern.

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Julian packte Finn immer noch grob an der Schulter, während er ihn wutentbrannt ansah. Mein Körper schaltete auf Autopilot. Ich schnellte nach vorne und schob Julian so zur Seite, wie er wenige Momente vorher mich weggestoßen hatte. Umso mehr Distanz ich zwischen die beiden bringen konnte, umso eher hatte ich die Situation wieder im Griff. Obwohl ich die Situation auch vorher so gar nicht im Griff hatte. Hätte ich das gehabt, wäre es nie zu der jetzigen Situation gekommen. Anscheinend war Julian der gleichen Meinung. „Geh weg", zischte er, ohne dabei den Blick von seinem Bruder abzuwenden. Es wütete ein Sturm an Emotionen in seinen Augen, aber er sah mich nicht an. Er war ganz auf Finn fokussiert. Ich konnte nicht einschätzen, ob in den nächsten Augenblicken die Wut die Überhand gewinnen würde. Wie beim letzten Mal.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, beim Gedanken an seine Auseinandersetzung mit Fredrik.

Schnell drückte ich mit meiner Hand gegen seine Brust, aber Julian wich keinen Zentimeter zurück. Auch auf weiteres Drücken, Schieben und seinen Namen reagierte er nicht. Im Gegenteil, er spannte sich weiter an. Falls das überhaupt noch möglich war. Irgendwie musste ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken.

„Ju. Sieh mich an", ich versuchte es sanfter, ich sprach so leise aber bestimmt wie möglich. Langsam strich ich von seiner Brust zu seinem Arm. Und fast funktionierte es. Sein Blick fiel kurz auf mich, wurde weicher. Bis er sich wieder an die Situation erinnerte und die Hand zur Faust ballte.

Ich schloss meine Hand um seine Faust. Sah ihm in die Augen und blendete alles um uns herum aus. Ich vergaß, dass wir mitten auf der provisorischen Tanzfläche einer Bar in Kopenhagen standen, ich vergaß, dass nur wenige Zentimeter hinter mir immer noch Finn war, dessen Körpersprache vermutlich der seines Bruders glich. Meine Finger lockerten seine Faust vorsichtig und verflochten sich mit seinen. „Bitte sieh mich an."

Sein Griff wurde lockerer, ich bildete mir sogar ein, dass sein Daumen leicht über meinen Handrücken strich. Julian sah mich endlich an. Zunächst scannte er meinen ganzen Körper, nicht anzüglich, eher als wollte er sich versichern, dass es mir gut geht. Dann fand sein Blick meinen und er entspannte sich merklich. Auch von mir fiel einiges an Anspannung ab.

Bis ich mich daran erinnerte, wo wir uns befanden. Plötzlich spürte ich all die Blicke der anderen um uns herum. Die Band hatte ihr Set zwar nicht unterbrochen, wofür ich ihnen gerade sehr dankbar war, dennoch hatte es für Aufmerksamkeit gesorgt, als der Barkeeper auf die Tanzfläche gestürmt war und mich von seinem Bruder losgerissen hat. Zumindest die Leute in unserer unmittelbaren Umgebung haben mitbekommen, was passiert ist und starrten uns jetzt an. Mir war das auf einmal viel zu viel Aufmerksamkeit.

Ich packte auch Finn am Handgelenk und zog beide Brüder mit zum Hinterausgang. Auf dem Weg wurden uns weitere vorwurfsvolle Blicke zugeworfen und von irgendwo vernahm ich „Cocktails" und „Barkeeper". Anscheinend war jemandem hier der Alkohol wichtiger als die Tatsache, dass es beinahe zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mitten auf der Tanzfläche gekommen wäre. Rasmus hingehen schien sich dem sehr wohl bewusst zu sein, zumindest fluchte er leise, als wir an ihm vorbei nach draußen liefen und er die Tür hinter uns schloss.

Sobald wir draußen und alleine waren, ließ ich beide Hände los und fuhr die beiden an: „Was zum Teufel sollte das? Seid ihr vollkommen verrückt geworden?"

Allein meine Gedanken der letzten Minuten endlich auszusprechen, half mir, besser mit der Situation umzugehen und etwas ruhiger zu werden. Ich atmete einmal tief durch um mich weiter zu sammeln und sah dann erst zu Finn und anschließend zu Julian. Anscheinend hatte keiner der beiden vor, auf meine Fragen zu antworten. Finn sah auf den Boden und betrachtete intensiv seine Schuhe. Zumindest sah er so aus, als wäre ihm die ganze Situation unangenehm. Geschieht ihm recht. Wenn ich ehrlich bin, war er vor ein paar Minuten noch daran schuld, dass ich mich in seiner Gesellschaft unwohl gefühlt habe. Vielleicht ist ihm das jetzt auch bewusst geworden.

Julian hingehen sah immer noch wütend aus und behielt seinen Bruder sehr genau im Blick. Er registrierte und analysierte jede noch so kleine Bewegung. So, als wäre er nicht, sicher, ob die Situation tatsächlich so entschärft ist, wie sie auf mich wirkt. Deshalb wandte ich mich zunächst an ihn: „Julian, bitte beruhige dich etwas." Um meine Worte zu unterstreichen, strich ich kurz über seine Hand, die schon wieder zur Faust geballt war. Leiser, so dass es Finn hoffentlich nicht hören konnte, ergänzte ich: „Danke für eben, aber lass mich das jetzt alleine klären, okay?" Es war deutlich zu sehen, dass ihm das eigentlich gar nicht gefällt und er protestieren will. Aber dann suchten seine Augen meinen Blick, er atmete tief ein und zu meiner Überraschung ging er ein paar Schritte zur Seite. Zwar beobachtete er Finn und mich, konnte aber vermutlich nicht jedes Wort verstehen, das wir miteinander redeten.

„Es tut mir leid," war das erste, das Finn sagte, noch bevor ich die Chance hatte ihn überhaupt richtig anzusehen.

„Finn, ich weiß nicht was ich dazu sagen soll..."

„Es tut mir wirklich leid, Isabella, ich weiß nicht was in mich gefahren ist... es ist Valentinstag und hier sind so viele Pärchen und wir hatten so viel Spaß... ähm... oder zumindest ich hatte Spaß dabei, mit dir zu tanzen. Ich hätte auf dein „Nein" hören sollen. Du hättest nie „Nein" sagen müssen... und..."

„Finn, stopp! Für heute ist es okay. Können wir vielleicht morgen in Ruhe darüber reden?"

„Isi, es tut mir so..."

„Finn!" unterbreche ich ihn erneut in seinem Redefluss. Ja, wir müssen darüber reden, was passiert ist. Aber heute Abend wollte ich eigentlich nur Spaß haben und dafür war es definitiv viel zu viel Aufregung für einen Abend. Außerdem sind wir jetzt alle aufgewühlt und lassen uns zu sehr von unseren Gefühlen leiten. Das ist keine gute Grundlage für ein Gespräch über Grenzüberschreitungen. Das sollten wir lieber in Ruhe führen. Für heute reicht die Entschuldigung, die er eben schon ausgesprochen hat. Alles weitere ist auch morgen noch früh genug. „Du hast dich schon entschuldigt. Über alles weitere können wir morgen reden. Bitte geh jetzt wieder rein. Drinnen ist die Hölle los, du wirst garantiert gebraucht. Außerdem will ich nicht, dass du von Rasmus noch mehr Ärger bekommst als vermutlich eh schon."

„Isi, ich..." er muss mein leichtes Kopfschütteln bemerkt haben, als er mitten in einer weiten Entschuldigung abbricht. „Danke." Ein unsicheres Lächeln, das ich gerne erwiderte. Ich geh dann wohl wieder rein..." Finn macht einen Schritt auf die Tür zum Hintereingang der Bar, bevor er nochmal stoppt und sich zu mir dreht. „Viel Glück, Isi." Pause. „Aber pass auf dich auf." Sein Blick glitt kurz hinter mich zu seinem Bruder und noch bevor ich etwas sagen konnte, verschwand er durch die Tür wieder nach drinnen.


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