37. Verborgen unter der Kapuze

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Bevor Rûna zum großen Platz gelaufen war, hatte sie sich den Schmutz und das Heu von der vorherigen Nacht aus den Haaren gekämmt. Auch, wenn sie keinesfalls sauber waren und eine Wäsche dringend nötig hatten, so flocht sie sie sorgsam zu einem festen Zopf, der über ihre Schulter nach hinten fiel. Sie hatte ihre alten Lumpen abgestrichen und das einzig schöne Gewand angezogen, das sie noch besaß. Es war das einfache, grüne Kleid, das ihr Hulda geschenkt hatte. Vor all den Jahren. Es war etwas abgenutzt, aber noch immer erfüllte es sie mit Hoffnung. Wenn nicht in diesem Kleid, in welchem anderen würde sie die beschwerliche Reise durch das Land auf sich nehmen?

Trotz der sommerwarmen Luft bereits so früh am Morgen warf Rûna einen von Hulda abgetragenen Manteln über. Sie zog die Kapuze so weit nach vorne, dass sie nicht nur ihre Haare, sondern auch ihr Gesicht verbarg. Der ausgebeulte Mantel ließ sie alterslos erscheinen, schluckte all ihre Kurven und verlieh ihr die Optik einer alten Frau.

Zum Schluss wusch sich Rûna noch ihre Hände und das Gesicht, dann lief sie los, beunruhigt und aufgeregt zugleich. In der Hütte hatte sie die ihr noch verbliebenen Besitztümer zusammen mit dem Messer zu einem Bündel gepackt. Das Bündel hatte sie unter dem Heu im Stall versteckt, falls sie die Hütte durchsuchten. Nach der Kundgebung am großen Platz würde sie hierher zurückkehren, das Bündel einsammeln und die Siedlung verlassen. Vorher gab es keinen Weg, aber wenn die Kundgebung beendet war und Soldaten und Einwohner gleichermaßen aus der Siedlung strömten, dann hatte sie eine Chance unterzugehen in der Masse. Einzutauchen. Abzutauchen. Zu verschwinden. Und dann würde sie rennen, um ihr Leben.

Als sie am großen Platz ankam, warteten bereits unzählige Menschen dort. Viele Gesichter aus der Siedlung kannte sie, alle bleich vor Angst und mit dunklen Augenringen von der schlaflosen Nacht. Alle starrten sie ohne Fokus durch sie hindurch. Unter die Einheimischen hatten sich die Krieger gemischt, unbewaffnet die Krieger des alten Fürstens, blutverschmiert, oft verletzt und bewaffnet die Krieger des Rabenfürstens. Wie Mahnmale standen sie zwischen ihnen und keiner wusste, ob eine Gefahr von ihnen ausging. So mieden die Einheimischen sie und zogen einen weiten Kreis um sie herum.

Die Menschenmenge war nicht still, ein Summen wie von einem Bienenschwarm ging von ihr aus. Die Familien untereinander tuschelten leise und hinter vorgehaltener Hand. Sie berichteten, was ihnen in der letzten Nacht zugestoßen war und tauschten Neuigkeiten über Tote oder Verletzte aus. Alle standen sie mit den Gesichtern dem Langhaus zugewandt da, aus dem in jedem Moment der Rabenfürst hinaustreten konnte.

Rûna unterhielt sich mit niemandem. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und starrte unablässig die Tür des Langhauses an, die Morgensonne wärmte ihren dunklen Mantel auf und ließ sie etwas schwitzen. Wer würde aus der Tür treten? War es ihr namenloser Verletzter? Oder war es der namenlose Krieger, der sie in den Wald begleitet hatte? Womöglich war es aber ein völlig Unbekannter. Die Minuten vergingen und ihre Haltung wurde immer angespannter. Sie wollte es wissen, musste es wissen! Kein Weg führte daran vorbei. Zu oft hatte der Rabe sie in ihren Träumen begleitet und sie in ihren Gedanken eingeholt.

Doch bevor sich die Tür öffnen konnte, spürte Rûna schwere Hände auf ihrer Schulter. Sie ließen sie herumwirbeln und so blickte sie in die Gesichter von zwei Rebellenkriegern.

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Oje.... Es wird nicht besser, oder? 😉

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