Nach dem heuten Tag wollte Merle aufgeben. Alle Versuche waren gescheitert, jemand passenden zu finden. Und wenn sie es unter diesen Umständen nicht schaffte, eine Liebschaft anzufangen, konnte sie einpacken.
Trotz allem saß sie nun hier. In einem Lokal, das sie nicht kannte und neben einer Fremden. Amelie leerte ihren Cocktail in einem Zug und schien gar nicht mit dem Grinsen aufhören zu können. Aus irgendeinem Grund machte sie das wütend. Wenn sie ihr nur einmal blöd kam, würde Merle abhauen.
„Was ist so witzig?"
Amelie wandte sich ihr zu und wurde ernst. „Gar nichts."
„Verarschst du mich?"
„Ganz und gar nicht."
Merle seufzte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Bei dieser Dummheit schüttete sie ihre Cola hinunter und lauschte Amelies zweiter Bestellung beim Barkeeper, der seine Augen auch kaum auf ihrem Gesicht halten konnte – da hatte Amelie wohl keinen Mist erzählt. Wahrscheinlich war sie ein Magnet für beiderlei Geschlechter. Das spürte selbst sie.
Amelie trank das zweite Glas aus und setzte eine gefasste Miene auf. Bei diesem Stimmungswechsel kam Merle kaum hinterher.
„Ich musste daran denken, was du gesagt hast. Da wurde mir schon ganz anders. Und als ich dann diesen hervorragenden Drink bekommen habe, musste ich ihn einfach so sehr genießen, wie ich kann. Ich liebe Alkohol. Aber ich bin keine Alkoholikerin, keine Sorge", scherzte sie und seufzte. „So sehr, dass ich mich an den Geschmack wohl gewöhnt habe und ihn überhaupt nicht mehr schätze. Das tat gut."
Merle betrachtete ihr leeres Glas. „Schmeckt das so gut?"
Amelie hob ihre Hand für ein drittes Glas, der Typ hinter der Theke nickte. „Natürlich nicht jedem. Ist okay, wenn du es nicht magst."
Merle schwieg und fokussierte weiterhin alles außer ihre Begleitung. Aus irgendeinem Grund konnte Amelie nicht damit aufhören, sie anzustarren. Als konnte sie direkt in ihre Seele blicken. Bei dem Gedanken stellten sich Merles Nackenhaare auf. Es war kaum zu ertragen.
„Wie alt bist du?", fragte Amelie.
„26."
„Heilige Scheiße."
Merle verzog gereizt den Mund und stellte sich dumm, obwohl Amelie es längst wusste. „Was denn?"
„Wirklich noch nie?"
„Na und? Ist doch nichts dabei."
Sie selbst hatte die Tatsache nie gestört, lediglich die Reaktionen anderer. Als wäre sie auf dem Mond aufgewachsen. Wenn die wüssten, was es da noch alles gab, das sie ab diesem Moment verheimlicht hatte.
Amelie hob abwehrend die Hände. „Selbstverständlich nicht. Es ist nur erstaunlich, weil man heutzutage fast überall damit konfrontiert wird."
Merles Ärger legte sich wieder und wich heranwachsender Neugier. Schließlich stand Alkohol auf der Liste. Ihre Augen fixierten das Glas in Amelies Hand, die Flüssigkeit schaukelte beinahe hypnotisierend in der schwenkenden Bewegung.
„Möchtest du mal kosten?", fragte Amelie.
„Ich bestelle mir einen." Sie war schließlich kein Kind mehr, auch wenn es sich ganz und gar nicht so anfühlte. „Welchen empfiehlst du?"
Die beiden studierten das Menü, mit Amelies Beschreibungen suchte sich Merle einen Aperol Spritz aus. Der Hauptgrund war der niedrige Alkoholgehalt – das musste Amelie ja nicht wissen.
Wenig später stand das Glas vor ihr. Das gedimmte Lichte brachte die verschiedenen Orange- und Rottöne zum Glänzen. Merle prägte sich diesen bezaubernden Einblick ein, als sie das Glas hob und in Richtung ihrer zusammengepressten Lippen führte. Die kalte Flüssigkeit füllte ihren Rachen und brannte ein wenig.
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Merle
Short StoryMerle ist 26 Jahre alt, als sie von dem bösartigen Tumor in ihrem Kopf erfährt. Motiviert, ihr Dasein als graue Maus abzulegen, bringt sie frischen Wind in ihr Leben und trifft die aufgeschlossene Amelie. Sie erfährt von ihrem Schicksal und will he...