Kapitel 1

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Ich lief die riesigen Marmortreppen vor den Schulgebäude so schnell runter wie es ging. Dann rannte ich weiter, an der Bushaltestelle vorbei, durch den kleinen Park, auf dessen Bänken lauter knutschende Pärchen saßen, um ein paar Häuserecken, bis ich am Friedhof ankam. Kurz vor dem großen, schwarzen, metallenen Friedhoftor wurde ich langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Ich stellte meine Schultasche auf dem kleinen alten Mäuerchen ab, dass den gesamten hellgrünen Rasen mit all seinen Gräbern umgab. Es war Frühling, und auf den meisten Gräbern keimten bereits die ersten Blumen. Ich öffnete das Tor, welches ein lautes knarrendes Geräusch von sich gab, als ich es öffnete. Als ich den Kiesweg betrat, der sich durch alle Gräberreihen hindurchschlängelte, schloss sich das Tor mit einem lauten Quietschton wieder hinter mir. Ich ignorierte es einfach, da es mich nicht groß störte. Mit langen, schnellen Schritten steuerte ich auf einen Engel aus weißem Marmor zu. Ich kniete mich neben ihm nieder und verweilte zwei Minuten lang so in der Stille. Danach stand ich auf und verließ den Friedhof wieder. Den weißen Briefumschlag den ich unter dem Efeu der den Engel umgab hervorgeholt hatte steckte ich in meinen Schulranzen. Ich lief den gesamten Weg wieder zurück, bis ich bei der Bushaltestelle war. Mit dem Bus fuhr ich zwei Stationen, bevor ich ausstieg und auf das alte Backsteinhaus zulief, in dem ich wohnte. Ich war zwar erst fünfzehn, meine Eltern aber hatten mir schon eine eigene Wohnung gekauft. Ich weiß heute selbst nicht mehr, wie ich es geschafft hatte meine Eltern zu überreden. Bei mir wohnte bis vor einem Monat noch ein Mädchen, das bei mir zwei Zimmer gemietet hatte. Da diese jetzt aber zu ihrem Freund gezogen war, verdiente ich nicht mehr genug Geld um mir all mein Essen zu kaufen, Strom- und Rundfunkgebühren zu zahlen usw... Neben der Schule jobbte ich zwar noch in einer Eisdiele, allerdings brachte mir das nicht wirklich viel ein.

Deswegen habe ich jetzt noch einen Job. Ich weiß weder für wen ich arbeite, noch woher das Geld kommt, das ich für all meine Aufträge kriege. Aber ich kriege Geld, und zwar so viel, dass ich mir regelmäßig ein paar neue Sachen kaufen kann. Wie ich zu dem Job kam? Ich weiß es auch nicht genau. Jedenfalls lag am dritten Tage nachdem meine 'Mieterin' ausgezogen war ein blütenweißer Briefumschlag vor meiner Haustür.

Und ebenso einen zog ich nun aus meiner Schultasche. Vorsichtig öffnete ich ihn. Zuerst zählte ich nach ob alle Scheine da waren. Dann holte ich den Brief aus dem Umschlag und legte diesen dann vorsichtig in die Obstschale. Nun widmete ich mich der kursiven Handschrift mit den runden, geschwungenen Buchstaben;

Diese Woche ist dein Auftrag einfach. Komm in zwei Tagen um 14.30 auf den Friedhof. Dort wird dich jemand/etwas erwarten.
Das Geld ist im Umschlag.
Verbrenne diesen Brief nach dem Lesen.

Ich zögerte kurz, doch dann entschied ich mich den Brief erst einmal nicht zu verbrennen. Vielleicht würde er mir später noch einmal nützlich sein. Ich hatte ja keine Ahnung wie nützlich.

Nachdem ich mir etwas gekocht und zu Mittag gegessen hatte schnappte ich mir meine Tasche und ging zu meiner besten Freundin Caitlin, die gegenüberwohnte. Nach dem zweiten Klingeln öffnete sie endlich die Tür.
"Oh, hallo, komm doch rein."
Sie lächelte und öffnete die Tür. Ich lächelte auch, allerdings war dieses Lächeln nur höflichkeitshalber. Denn normalerweise verspüre ich nie den Drang zu lächeln. Ich tue es nur oft, um andere Leute nicht zu verletzen.
Als ich meiner Freundin in die Küche ihrer Eltern folgte sah ich zwei Gesichter, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
"Sam?" sprach sie mich an,
"Das sind Raphael und David."
Auch ihnen lächelte ich aus reiner Höflichkeit zu. Es waren Zwillinge, so viel war klar. Aber würden sie sich nicht so unglaublich ähnlich sehen, könnte man meinen, dass sie so verschieden sind wie ein Vogel und ein Fisch.
Der Linke grüßte mich und lächelte herzlich. Der Rechte dagegen starrte stur an die Wand und würdigte mich keines Blickes. Mir war das egal. Ich war genauso.

Meine Freundin aber schien es zu stören. "David, sei nicht immer so unfreundlich. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder."
Der Linke (anscheinend David) schien verletzt. "Du bist nicht meine Mutter. Und überhaupt. Ich bin eben nicht mein Bruder, versteh' das. Außer dass wir gleich aussehen haben wir so gut wie gar nichts gemeinsam."

Mich interessierte es kein bisschen, wer hier eingeschnappt war und mit wem streitete, ich hatte eigentlich gehofft, dass ich mit Caitlin ein bisschen in die Stadt gehen konnte, aber das war jetzt wohl nicht mehr möglich.

"Woher kennt ihr euch überhaupt?" fragte ich um die anderen davon abzubringen sich feindselig anzusehen. Diese allerdings dachten gar nicht daran, mit dem Streit aufzuhören. "Das sind meine Cousins" antwortete Caitlin, während sie David immer noch mit ihrem fiesesten Blick taxierte.

Nach ungefähr zwei Minuten gab sie auf. Meine Freundin grinste mich an und sagte: "Und da sie meine Cousins sind, brauchst du keine Angst zu haben, dass ich sie dir wegschnappe."
Offensichtlich sollte das eine Provokation sein. Allerdings provozierte sie mich damit ungefähr so sehr wie eine Fliege die andere Fliege; nämlich gar nicht.

Anstatt so zu tun, als wäre ich empört antwortete ich Caitlin. "Ich kenne viele Mädchen die mit ihren Cousins schlafen. Bloß weil man verwandt ist, heißt das noch lange nicht, dass derjenige tabu ist." Jetzt schaltete sich Raphael ein. "Für mich schon. Tut mir Leid Caitlin, aber die Vorstellung... Nein danke..." Sie lachte nur darüber.

Da mir das Gespräch mit der Zeit zu langweilig wurde, holte ich mir Kekse aus dem Küchenschrank. Ich liebte diese Kekse. Unten waren sie aus ganz normalem Teig und oben mit Schokolade überzogen. Ich setzte mich mit der Keksdose an den Küchentisch und fing an zu essen.

Nach einer Weile (ich war ungefähr bei der Hälfte der Keksdose angelangt) hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Erst leise, dann lauter. Ich blickte zur Tür die in den Gang führte. Niemand stand draußen. Ich fasste den Entschluss, dass ich mir das nur eingebildet hatte und widmete mich wieder den Keksen. Da hörte ich meinen Namen noch einmal. Es kam aus der Speisekammer. Ich stand auf und lief auf die hellbraune Holztür zu.

"Hallo?" ich trat in den kleinen Raum mit den vielen Speisen ein und entdeckte jemanden, der hinter der Tür lehnte. "David? Was willst du hier?" Ich sah mor den Jungen mit den eisblauen Augen und den schwarzen Locken genau an. Eisblau- meine Lieblingsfarbe. Schon als ich klein war wollte ich eisblaue Augen haben, allerdings habe ich grün-braune Augen, was ich ehrlich gesagt auch nicht schlecht finde. Und ganz ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht im geringsten welche Augenfarbe ich hatte, die Hauptsache war doch, dass ich Augen hatte.

Das alles klärte allerdings noch nicht, was ich alleine mit David in diesem Raum machte. Ich sah ihn immer noch kalt an. In diesem Moment kam mir ein sehr hilfreicher Gedanke:
'Wie würde sich wohl ein normales Mädchen verhalten, die alleine mit einem gutaussehenden Jungen in einem engen Raum ist? Schüchtern? Aufgeregt? Vielleicht wütend? Nervös?'
Ich entschied mich für letzteres und trat ein wenig auf der Stelle um leicht nervös zu wirken. Anscheinend hatte das was gebracht, denn David grinste in einer Mischung aus frech und gemein. Dabei konnte man deutlich seine Grübchen erkennen.

Ich hätte in diesem Moment am liebsten einfach gefragt was er wollte und wäre abgehauen, aber ich wollte den Anschein von einem normalen Menschen wenigstens noch ein bisschen länger aufrecht erhalten und blieb deshalb still stehen.

Überraschenderweise ging David allerdings nun aus dem Raum. Alles was er noch von sich gab war: "Sei pünktlich."

Am liebsten hätte ich gefragt wann und wo, aber nachdem ich die Speisekammer wieder verlassen und mich meinen Keksen zugewandt hatte war es mir auch schon wieder egal. War ja nicht mein Problem wenn der Cousin meiner Freundin ein Psychopath war.

CallousWhere stories live. Discover now