Chip und Cherry

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Mein Handy sagt, es ist Mitternacht. Endlich. Ich stoße mit meinem Fuß die kleine Tür auf und klettere aus dem engen Raum, in den ich mich bis grade gequetscht habe.
Es ist fast komplett dunkel, nur zwei Werbetafeln, die jeweils nach innen und außen zeigen, spenden ein wenig Licht. Mir soll's recht sein. Je weniger Licht, desto besser. Denn dann sieht man mich nicht. Ich gehe durch die verlassenen Gänge des Supermarkts zur Süßwarenabteilung. Mit meinem Handydisplay beleuchte ich die verschiedenen Chipstüten, bis ich die gefunden habe, die ich suche. Pringles Sour Cream & Onion. Ich schnappe mir die erste Packung, mache sie auf und setze mich damit auf den Boden. Wie angenehm es hier ist, wenn niemand da ist. So ruhig. Das einzige, was man hört, ist mein Knuspern.
Was ich hier mache, oder wieso ich es mache, weiß ich selbst nicht genau. Durch Zufall habe ich heute Abend in diesem Supermarkt diese Klappe entdeckt. Keine Ahnung, wofür sie gut ist. Darin kann man auf ein paar Rohre zugreifen, aber mehr weiß ich auch nicht. Irgendwie habe ich mich dann gefragt, ob ich wohl da rein passen würde. Ich bin schon recht klein und kann mich gut komprimieren, also habe ich einen Moment gewartet, bis niemand mehr in der Nähe war, und es ausprobiert. Und wie ich da rein gepasst hab. Es war zwar eng, aber für ein paar Stunden kann man es da aushalten. Und so bin ich einfach drin geblieben.
Was könnte ich noch machen? Jetzt, wo ich schon mal in einem verlassenen Supermarkt bin, will ich die Situation auch ausnutzen. Was sagen sie wohl morgen, wenn sie mich finden? Oder soll ich mich vor Ladenöffnung wieder hinter der Klappe verstecken und herauskommen, wenn schon ein paar Kunden im Laden sind? Aber ich kann ja nicht wissen, ob sie mich dabei sehen, wie ich rausgehe... Vielleicht hätte ich mir dazu vorher Gedanken machen sollen. Aber egal. Ich habe ja noch die ganze Nacht, eigentlich.
Während ich auf den nächsten Chip beiße, höre ich ein helles Geräusch hinter mir. Es klang wie ein ganz kurzes Klack. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Aber da ich hier gerade etwas Verbotenes mache, bin ich in höchster Alarmbereitschaft und spüre förmlich, wie mein Gehirn Adrenalin freisetzt. Gibt es hier sowas wie Nachtwächter?
Ich rutsche auf dem Boden bis zum Ende des Regals und schaue vorsichtig um die Ecke. Alles scheint wie immer. Ich scanne mit meinem Blick jedes Regal, was ich von hier aus sehe, aber finde nichts Auffälliges. Trotzdem läuft mir ein Schauer über den Rücken. Wieso fühlt es sich so an, als wäre ich in einem Horrorspiel?
Ich rutsche wieder ein bisschen zurück und überlege. Soll ich der Sache auf den Grund gehen oder das einfach ignorieren? Plötzlich höre ich das gleiche Geräusch nochmal. Ein Klack gefolgt von einem Ratschen. Ich blicke nochmal vorsichtig um die Ecke. Dann stehe ich auf und schleiche den Gang entlang. Ganz langsam gehe ich geduckt, bei jedem Schritt schaue ich nach links und rechts. Theoretisch könnte hinter jedem Regal jemand stehen und mir eins über die Rübe ziehen. Aber wer soll schon hier sein? Wenn es so ein Security Typ ist, macht er das bestimmt nicht. Und Putzfrauen auch nicht. Außer jemand hat mich heute beobachtet und auch gewartet, bis sie schließen, um mich hier umzubringen. Ach, nein, das wäre dumm. Hier ist eine Flucht ja gar nicht möglich. Oder?
Jetzt ertönt das Klack wieder, aber lauter. Und von rechts hinten. Bin ich schon dran vorbei gelaufen? Ich drehe mich langsam um und gehe in einen Gang, der parallel zu den Süßwaren verläuft. Am Ende luge ich um die Ecke. Da steht jemand. Sofort zucke ich zurück. Fuck. Was mach ich jetzt? Ich bin hier eingeschlossen mit dieser Person. Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist und ob er oder sie gefährlich sein könnte. Aber ich sollte hier so schnell wie möglich weg. Wie komme ich hier raus? Gibt es irgendwo eine Notfall-Tür oder wie die heißen?
»Ähm, Entschuldigung?«
Vor Schreck stoße ich mit meinem Arm gegen das Regal. Au, das war auch noch der Musikknochen. Aber die Stimme klang freundlich, nicht bedrohlich, und auf eine gewisse Art niedlich. Scheint also eine Frau oder ein Mädchen zu sein. Ich blicke wieder um die Ecke. Es ist ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, würde ich sagen. Also siebzehn.
»Hast du Licht?«
Ich atme erleichtert aus und reibe mir den Arm.
»Ja«, antworte ich, hole mein Handy aus der Hosentasche und mache die Taschenlampe an.
»Ich suche nämlich Dosenpfirsiche, aber ich kann nichts lesen und mache die ganze Zeit die falschen Dosen auf.«
»Achso. Ja, das ist blöd.«
Ich leuchte das Regal an und suche mit ihr die Dosenpfirsiche.
»Da!«, ruft sie und nimmt sich eine Konserve.
Während sie sie öffnet, halte ich das Licht auf sie gerichtet. Sie sieht irgendwie süß aus. Nicht nur niedlich, sondern auch wie ein lebendig gewordenes Bonbon, zumindest was ihre Kleidung betrifft. Ihr Kleid hat die Farbe von rosa Zuckerwatte, ihre Strumpfhose ist weiß und das Oberteil unter dem Kleid babyblau. In ihren blonden Haaren sind ein paar Klammern mit Apfel- und Kirschmotiven.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Cherry. Und du?«
Heißt sie wirklich so oder hat sie sich das grad ausgedacht? Vielleicht ist es ihr Spitzname.
»Chip.«
»Chip?«
»Jup.«
»Okay. Danke für das Licht, Chip. Willst du auch?«
Sie hält mir die offene Dose hin.
»Nein, danke.«
»Na gut.«
Dann greift sie einfach mit ihrer Hand hinein und nimmt sich ein Stück.
»Hach, ich liebe Dosenpfirsiche.«
»Wieso?«
»Sie sind so schön weich und süß.«
»Für mich sind sie zu weich und zu süß.«
»Dann bleibt mehr für mich.«
»Willst du etwa alle Dosenpfirsiche essen, die es hier gibt?«
»Nein, nein. Ich weiß ja selber, dass ich das nicht schaffe. Aber das sagt man doch so.«
»Joa.«
»Was machst du eigentlich hier?«
»Weiß nicht. Abhängen.«
»Cool.«
»Und du?«
»Ich auch.«
»Cool cool.«
»Bist du öfters hier?«
»Nee, das ist das erste Mal. Und du?«
»Ich natürlich auch nicht, sonst hätte ich doch nicht gefragt.«
»Achso, ja.«
Sie lacht.
»Wo hast du dich versteckt, Chip?«
»Komm, ich zeig's dir.«
Mit der Konserve in der Hand folgt sie mir durch die Gänge bis zu der Klappe. Ich öffne sie und leuchte mit dem Handy in die kleine Kammer.
»Da passt du rein?«
»Jo.«
»Glaub ich dir nicht.«
»Natürlich pass ich da rein.«
»Beweise es.«
»Na schön.«
Ich gehe in die Hocke, lege mein Handy auf dem Vinylboden ab und krabble in die enge Kammer.
»Gibt's ja nicht«, staunt Cherry.
Sie hockt sich vor mich und fängt an, sich zu mir zu quetschen.
»Was machst du da? Wir passen nicht zu zweit hier rein!«
»Doch, du musst nur deinen Bauch einziehen.«
»Was soll das denn heißen?!«
Sie lacht und bewegt sich langsam immer weiter in den kleinen Raum. Ich glaube immer noch, dass das nicht passt, aber weil ich jetzt eh nicht wieder rauskomme und sie anscheinend auch nicht aufgeben will, verlagere ich meine Arme ein bisschen so um die Rohre, dass etwas mehr Platz ist.
»Na also, geht doch.«
Sie zieht zum letzten Mal ihr Bein ein, dann greift sie nach der Klappe und zieht sie mit einem lauten Knall zu.
Ich habe noch nie so unbequem irgendwo gesessen. Ihr kann es doch nicht anders gehen. Wieso macht sie das? Ich kann ja wenigstens noch auf dem Boden sitzen, aber sie beugt sich in einer kleinen Verrenkung über mich. Das weiß ich nur, weil ich es eben gesehen habe. Jetzt, wo die Tür zu ist, dringt kein Licht mehr herein. Mein Handy liegt noch draußen auf dem Boden.
»Und jetzt?«, frage ich.
»Weiß nicht. Hast du noch was vor?«
Hä?
»Ich find's ziemlich unbequem, Cherry.«
»Wieso bist du dann überhaupt rein gegangen?«
»Alleine ging es noch, aber zu zweit...«
Meine Arme werden gegen die Rohre gepresst, was auf Dauer echt schmerzhaft wird.
»Und ich hab meine Pfirsiche draußen vergessen«, jammert sie.
Sie bewegt sich ein bisschen, was auch noch meine Magengegend einquetscht und sie dazu bringt, ›Au‹ zu sagen.
»Alles okay?«
»Ja, ja. Ich hab mir nur den Kopf gestoßen. Dämliches Rohr.«
»Weißt du, wenn wir nicht hier drin wären, hätten wir das Problem nicht.«
Sie bewegt sich nochmal, jetzt etwas vorsichtiger, dann küsst sie mich auf den Mund. Und da mein Gesicht wirklich das einzige ist, was ich bewegen kann, küsse ich sie zurück.
Nach einer Weile löst sie sich wieder von mir.
»Es ist irgendwie unbequem.«
»Sag ich doch!«
Sie macht die Tür wieder auf und zwängt sich hinaus. Endlich kann ich in die Freiheit. Bestimmt sind jetzt schon beide Arme abgestorben. Ich bewege sie ein bisschen, aber es geht eigentlich. Cherry hat schon wieder ihre Dose in der Hand und isst Pfirsiche.
»Weißt du, wo die Toilette ist?«, fragt sie.
»Nee, keine Ahnung.«
Ich laufe neben ihr her und halte Ausschau nach Toilettenzeichen, aber nachdem wir einmal den kompletten Laden durchkämmt haben, finden wir keine. Es gibt nur eine Art Tor, das bestimmt zum Lager führt und nicht aufgeht, und eine Tür, auf der ›Nur für Mitarbeiter‹ steht. Aber die ist auch abgeschlossen.
»Musst du denn dringend?«, frage ich.
»Nein, ich muss gar nicht. Ich wollte nur vorausschauend handeln.«
»Und was machst du jetzt, wenn du musst?«
»Es einhalten.«
»Na dann.«
Wir stehen in der Gegend rum und hängen eine Weile unseren Gedanken nach. Was für eine merkwürdige Situation. Wieso ist dieses Mädchen in dieser Nacht auch hier drin? Oder ist sie vielleicht immer hier, hat mich aber angelogen? Oder ist sie sogar ein Vampir? Das könnte tatsächlich sein. Aber bis jetzt hat sie mir nichts getan und sie hatte mehr als genug Möglichkeiten, also wird mir bestimmt nichts passieren.
»Schon komisch, dass wir genau in der gleichen Nacht im Supermarkt sind, oder?«, sage ich.
»Ja, finde ich auch. Das ist bestimmt Schicksal.«
»Schicksal?«
»Genau. Schicksal.«
»Und was heißt das jetzt?«
»Dass es einen höheren Grund gibt, wieso wir beide heute Nacht hier sind.«
»Und welcher soll das bitte schön sein?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Dann ist es kein Schicksal!«
»Na ja, vielleicht hast du recht.«
Ich muss grinsen.
»Hast du dir schon überlegt, was wir morgen früh machen?«, fragt sie.
»Nicht so richtig.«
»Wie wär's, wenn wir uns in dieser Kammer verstecken?«
»Niemals! Ich geh da niemals wieder rein!«
»So schlimm?«
Sie wirkt ein bisschen betroffen.
»Es war halt unbequem.«
»Ja, ja.«
Sie nickt.
»Dann verstecken wir uns einfach hinter einigen Regalen.«
»Das funktioniert niemals. Die finden uns doch.«
»Dann müssen wir ein bisschen beweglich sein. Hast du nie Videospiele gespielt, wo man Leuten ausweichen muss, die einen suchen?«
»Schon, aber das ist doch was ganz anderes!«
»Nicht unbedingt. Aber alternativ könnten wir uns auch auf einem Regal verstecken. Da guckt niemand hoch.«
»Natürlich gucken die da hoch!«
»Dann vielleicht in einem Karton.«
»In was für einem denn?«
»Beim Obst gibt's bestimmt was. Lass uns nachgucken.«
Sofort setzt sie sich in Bewegung Richtung Obstabteilung. Ich folge ihr seufzend.
»Hier! Guck mal!«
Sie zeigt auf ein paar Kartons, die neben den Kartoffeln stehen.
»Und wo sollen wir die Kartoffeln dann hintun? Die passen nicht alle in das Fach.«
»Vielleicht vor das Tor zum Lager stellen?«
»Einfach auf den Boden?«
»Wieso nicht?«
»Ach, nein... Wir legen die einfach unter die Zwiebeln und den Ingwer hier...«
Ich versuche, das Paketband des Kartons abzuknibbeln, aber das ist ganz schön umständlich.
»Lass mich mal«, meint Cherry.
Ich nehme die Hände weg und sie sticht mit ihrem Fingernagel mittig in das Paketband, zwischen die beiden Flügel, sozusagen. Dann fährt sie dazwischen entlang und hat den Karton nach wenigen Sekunden geöffnet.
»Was hast du denn für scharfe Fingernägel?«
Sie zuckt mit den Schultern. Dann fangen wir an, die Kartoffeln aufzufüllen und unter dem anderen Gemüse mehr schlecht als recht zu verstecken. Nach ein paar Minuten ist er leer. Und im Vergleich zu der Kammer hinter der Klappe ist er sehr geräumig.
»So, ich hole mir 'ne neue Dose und dann gehen wir in die Kiste, ja?«, fragt sie und grinst.
Ich lache und antworte »Alles klar«, während ich mich frage, wie wörtlich oder sprichwörtlich sie das meinte.
»Siehst du denn genug?«, rufe ich ihr hinterher.
»Ich weiß jetzt, wo sie stehen. Aber danke.«
»Okay.«
Ich steige über den Rand und setze mich in den Karton. Mein Handy hat nur noch 20% Akku. Wir sollten uns das gut einteilen, also mache ich die Taschenlampe aus. Nach kurzer Zeit kommt sie wieder mit einer offenen Dose zurück.
»Wie kriegst du die eigentlich auf?«
»Mit meinen Händen?«
»Ist das nicht voll schwer?«
»Es geht. Nicht, wenn man ein erfahrener Dosenknacker ist.«
»Na dann«, entgegne ich grinsend.
Vorsichtig steigt sie zu mir in den Karton und macht ihn über uns zu.
»Und wann gehen wir dann morgen raus?«, frage ich.
»Wenn wir merken, dass sie aufmachen, aber keiner hier ist.«
»Und woher wissen wir das?«
Sie bewegt sich und kratzt irgendwie am Karton. Ich glaube, sie steckt ihren Finger durch.
»Wir können hier durchgucken und dann wissen wir es.«
»Na ja. Man sieht aber nicht alles durch das Loch.«
»Aber besser als nichts.«
»Ja. Besser als nichts.«
Ich höre, wie sie sich einen Pfirsich aus der Dose nimmt.
»Weißt du, ich bin eigentlich ziemlich müde«, meint sie.
»Echt?«
»Ja. Es ist mitten in der Nacht.«
»Aber wir sind in einem Supermarkt! Das muss man ausnutzen!«
»Wir können ja morgen wiederkommen.«
»Wenn wir nicht erwischt werden.«
»Ach, das kriegen wir hin.«
»Na gut, wenn du meinst. Und morgen bist du dann nicht müde?«
»Nee. Ich schlafe ganz lange und dann kann ich auch durchmachen.«
»Aber du weißt schon, dass sie um sechs oder sieben Uhr aufmachen, oder?«
»Ja, danach. Zuhause.«
»Achso.«
Sie stellt die Dose in eine Ecke, dreht sich irgendwie und lehnt sich dann mit dem Rücken an meine Brust.
»Gute Nacht, Chip.«
»Gute Nacht, Cherry.«

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