Aprilia
Ich stand neben Erik im Aufzug, wir schwiegen.
Es war geradezu lächerlich einfach gewesen, unsere Eltern davon zu überzeugen, den Abend in einem kleinen Pub in Aalbæk zu verbringen. Es sei unser Geburtstag, wir sollten Spaß haben, hatte unsere Mutter mit ihrem schrecklichsten Lächeln gesagt. Einziges Problem: Gut zwei Dutzend Leute, die wegen der Hochzeit im Anwesen unserer Eltern waren, hatten mitkommen wollen.
Also behauptete ich gegen acht Uhr, ich hätte zu viel getrunken und Fabian würde mich nach Hause fahren. Stattdessen fuhren wir nach Hirtshals in die Hafenhalle, wo Erik und Åsmund mit dem weißen Kleinbus warteten.
Erik hatte mir zum Geburtstag gratuliert. Seitdem hatten wir nicht mehr gesprochen.
Ich wusste nicht, wo oben und unten war. Ich war wütend auf ihn, gleichzeitig aber auch so dankbar, dass er Bente beschützt hatte – nichts ergab Sinn. Einerseits wollte ich ihm den Kopf abreißen, andererseits wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. Einerseits konnte ich an nichts anderes als Bente denken ... andererseits wollte ich ihrem Vater sagen, wie sehr ich ihn immer noch liebte.
All die Jahre hatte ich mich gefragt, ob diese unfassbare Sehnsucht etwas mit dem vermeintlichen Tod unseres Kindes zu tun hatte oder weil er meine erste Liebe gewesen war oder weil ich der Vergangenheit nachtrauerte.
Jetzt wusste ich es.
In dem Augenblick, als ich Erik vor nun fast einer Woche auf unserem Hof gesehen hatte – das erste Mal seit sieben Jahren – hatte ich es gewusst.
Ich drückte die Bremse des Fahrstuhls, der Aufzug kam ruckartig zum Stehen. Erik sah mich überrascht an, er wollte etwas sagen, doch ich schüttelte den Kopf. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen, legte die Arme um seinen Hals ... und küsste ihn.
Es war so vertraut, dass es mir den Atem verschlug. Alles. Sein Geruch, seine Haut, wie er langsam seine Arme um mich schlang und ruckartig an sich heranzog. Ich schob ihn gegen die Wand, unser Kuss wurde fordernder.
„Prila", hauchte er irgendwann. „Warte."
Ich sah ihn an.
Er strich mir sehnsüchtig mit dem Daumen über meine Wange. „Du solltest mich hassen", flüsterte er.
Ich schnaubte traurig. „Oh Erik." Ich schüttelte den Kopf. „Du bist der letzte Mensch auf dieser Welt, den ich jemals hassen könnte." Ich legte meine Stirn an seine und schloss die Augen. „Ich liebe dich, Erik", wisperte ich. „Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, den ich mehr liebe." Auch wenn ich erst vorgestern erfahren hatte, dass dieser Mensch noch am Leben war.
Erik lachte erstickt, er verzog schmerzvoll das Gesicht. „Gott, Prila, ich liebe dich auch", hauchte er. „Auch wenn meine Rangliste ähnlich aussieht."
Ich lächelte und schlang die Arme enger um ihn. „Versprich mir, dass, wenn das alles vorbei ist, wir Bente zu uns holen und wir drei uns nie wieder trennen."
„Machst du mir gerade einen Heiratsantrag?", fragte er.
Ich lachte leise. „Klingt so. Oder ist das – ist das bescheuert?"
Er schüttelte ernst den Kopf. „Ich wusste immer, dass es keine andere außer dich gibt. Ich liebe dich so sehr, Prila, weißt du das eigentlich? Und ich schwöre es. Du wirst bei Bente sein." Er fuhr mit seinen Lippen meine Schläfe hinab. „Aprilia, ich werde alles dafür tun, um die letzten Jahre wieder gutzumachen. Ich verspreche es dir."
Ich sagte nichts, sondern küsste ihn wieder. Nach einigen Minuten löste ich mich von ihm und entriegelte die Bremse, der Fahrstuhl fuhr weiter aufwärts.
„Oh, da fällt mir ein ..." Ich lehnte etwas außer Atem an der Wand und musterte ihn. „Vielleicht hätte ich dich vorher fragen sollen, ob du in einer Beziehung bist, was?"
Er lachte. „Stimmt. Hätte wirklich komisch werden können, Prila."
Dieses Lachen, diese Grübchen – einfach alles an diesem Mann war unwiderstehlich. Ja, ich hatte Angst. Dass wir zu unterschiedliche Menschen geworden waren, dass er nach kurzer Zeit feststellen würde, dass ich nicht mehr die gleiche war wie mit siebzehn, oder – davor fürchtete ich mich am meisten – dass Frederiks Plan nicht aufgehen und sich nichts ändern würde.
Aber seit ich wusste, dass Bente am Leben war, gab es etwas, wofür sich das Hoffen und das Kämpfen lohnte. Ich wollte meine Tochter kennenlernen. Ich wollte ein Haus mit einem Klavier, ich wollte jeden Tag mein Kind sehen, mit ihr am Strand im Sand spielen, mit ihr Filme gucken, mit ihr kochen und ihr Trompete vorspielen. Ich wollte jede Nacht neben Erik einschlafen und am nächsten Tag neben ihm aufwachen.
„Wahrscheinlich ist sie schon im Bett", sagte Erik leise, als wir in den leeren Flur traten, an deren Ende Bentes Zimmer war.
„Das macht nichts, ich will sie nur sehen", flüsterte ich sehnsüchtig.
Hand in Hand betraten wir leise das Zimmer unserer Tochter. Das Licht war aus, aber im Mondschein sahen wir, dass sie nicht hier war.
„Fragen wir im Stationszimmer", sagte Erik schulterzuckend und zog mich den Flur zurück. Er klopfte an der Tür und eine kleine Pflegerin mit einem quengelnden Kleinkind im Arm öffnete uns.
„Wie kommt ihr denn hier rein?", fragte sie und wiegte das Kind in einem aufwändigen Tanz hin und her. „Besuchszeit ist vorbei."
Mein Herz wurde schwer.
„Wir suchen Bente", überging Erik ihre Bemerkung.
„Bente?" Die Frau sah ihn verwirrt an. „Bente ist nicht hier."
Erik zog die Brauen zusammen. „Okay und wo ist sie?"
„Wurde heute abgeholt."
Erik erstarrte.
„Von wem?", fragte ich. Meine Finger begannen zu zittern.
„Moment." Die Frau öffnete mit dem Kind auf der Hüfte ein Fenster auf dem Computer neben sich und las kurz etwas, bevor sie uns wieder ansah. „Bentes Aufenthalt hier war anscheinend von der Familie nicht mehr gewünscht und sie ist es jetzt zuhause."
Mein Atem stockte. Mein Blut gefror.
Erik rührte sich nicht. In diesem Augenblick schien die ganze Welt stillzustehen.
„Wir sind ihre Eltern", sagte Erik leise. „Also wer hat unsere Tochter mitgenommen?"
Die Frau sah sich kurz um, dann sah sie uns eindringlich an. „Hören Sie mir zu. Ich darf nicht darüber sprechen, aber – Ihre Tochter ist in guten Händen, da bin ich mir sicher. Rufen Sie nicht die Polizei, sonst ..." Sie griff nach meiner Hand und suchte meinen Blick. „Was auch immer diese Leute, die Bente gestern geholt haben, von Ihnen wollen. Tun sie es." Sie fuhr dem Kind über die spärlichen Haare und wiegte es wieder. „Sie müssen jetzt gehen."
Meine Beine gaben nach und ich sank zitternd zu Boden.
Ich hatte gerade erst meine Tochter wiederbekommen.
Jetzt hatten meine Eltern sie doch noch in die Finger gekriegt.
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Der Klang des Universums
RomanceMaeva hasst Weihnachten. Doch ausgerechnet über die Feiertage überreden ihre Freundinnen Tess und Aprilia sie, gemeinsam nach Dänemark ins Anwesen von Aprilias Eltern, den wohlhabenden Kjærsgaards zu fahren - das eigentlich leer stehen sollte. Dort...