Was hatte ich erwartet? Schock? Schuld? Angst? Entsetzen? Egal, es zeigte sich nichts in den doch so ausdrucksstarken Augen des Professors. Im Gegenteil wirkte er nicht mal überrascht. Ich runzelte die Stirn. „Wussten Sie es?" Die Frage kam mir spontan von den Lippen und Lishas Kopf ruckte zu mir, als überraschte sie diese Vermutung, während der Professor nur ruhig auf seinen Whiskey sah, von dem er einen Schluck trank, bevor er den Blick wieder hob.
„Ob ich es gewusst habe?", fragte er und schien kurz nachzudenken. „Nein. Aber ich habe irgendwie nicht an einen Unfall glauben können." Ich war völlig perplex und sah kurz zu Lisha, die mit den Achseln zuckte, den Professor dann aber mit misstrauischem Blick musterte. Der Professor sah von Lisha zu mir und lächelte leicht.
„Ich sehe schon, dass das viele Fragen aufwirft, aber Sie können mir nicht erzählen, dass Sie an einen Unfall geglaubt haben, oder? Ich meine, ein so schlaues Mädchen, wie Ihre Tochter. Strebsam, gut erzogen", er deutete eine Art Verbeugung in meine Richtung an. „Nie war sie mit Drogen, Randale oder irgendwelchen kriminellen Dingen in Verbindung gebracht worden. Was also sollte so ein Mädchen in den Suburbs, den verlassenen und sehr gefährlichen Vororten unserer so schönen Stadt? Und das an einem Dienstagabend?"
Mir wurde kalt und ich umklammerte mein Glas mit dem Whisky, während Lisha näher rückte und einen Arm um mich legte, den Professor angriffslustig betrachtend. „Nein, ich habe natürlich nicht an einen Unfall geglaubt", gab ich zu und schlug die Augen nieder. „Aber das ist, was die Untersuchungen ergaben. Der Pathologe war da sehr eindeutig."
Professor Rymer merkte auf. „Darf ich so vermessen sein zu fragen, wer ihre Tochter obduziert hat?" Lisha versteifte sich. „Warum wollen Sie das wissen?" Ihre Stimme war mehr ein Zischen und diesmal sah sie der Professor nicht mal an, sondern suchte meinen Blick. „War es Mike Roosevelt?" Ich sah auf. „Ja. Warum?"
„Weil er vor einigen Monaten sehr plötzlich seinen Job gekündigt hat und mich dies damals schon sehr gewundert hat. Er hatte ein sehr gut situiertes Leben, eine wunderschöne Eigentumswohnung, alles lief hervorragend, wie es schien. Und plötzlich...lässt er alles zurück." Meine Augen weiteten sich erstaunt und ich versuchte, sofort, es in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang mit dem Tod meiner Tochter zu bringen. Doch fiel mir nichts ein, wie dies zusammenhängen könnte, außer...
„Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie glauben, er habe etwas mit dem Tod zu tun?", zickte Lisha den Professor an und wir beide sahen zu ihr. Die Augen des Professors musterten sie kühl und er schüttelte den Kopf. „Nein, Miss ...Bafane?" Sie nickte schroff und er schwieg einen Moment. Dann setzte er erneut zum Sprechen an.
„Aber ich könnte mir vorstellen, dass er als Pathologe dieser schönen Stadt nicht genug hätte verdienen dürfen, um so ein Leben zu finanzieren." Ich runzelte die Stirn. Wollte der Professor uns gerade einen Verdächtigen auf dem Silbertablett servieren? Warum? Um von sich abzulenken, oder um zu helfen, weil ihm Caissy wirklich am Herzen gelegen hatte? Und wieso fiel es mir soviel schwerer als Lisha, wie es schien, ihn als den Widerling zu sehen, den die Aussagen der Studentinnen skizzierten?
„Was heißt das?", fragte ich irritiert und er sah mich ruhig an. „Dass es sehr wohl sein kann, dass Mike Roosevelt eventuell seine Arbeit an Wünsche von Außenstehenden angepasst hat, Miss Mulligan." Bei der Anrede stutzte ich leicht. Die meisten nannten mich automatisch „Mrs", da sie bei einer Mutter davon ausgingen, dass sie verheiratet war. Und weil es lächerlich ist, das nur vom Familienstand abhängig zu machen. Du bist schon lange keine ‚Miss' mehr.
„Ähm..." Ich versuchte, mich wieder zu konzentrieren, hatte aber irgendwie den Faden verloren. Wie sooft sprang Lisha ein, die das Kinn gereckt hatte und den Professor böse anfunkelte. „Und das sagen Sie, weil Sie, als so rechtschaffender Mensch, der sich nie etwas zuschulden hat kommen lassen, eben deswegen so genau über die Abgründe der Menschen Bescheid wissen? Oder weil sie vielleicht doch selbst genug zu verbergen haben?"
Die Anspannung in mir wuchs, da es sich falsch anfühlte, was Lisha sagte. Ich wusste, warum sie es tat und stimmte ihr eigentlich zu, doch wirkte der Professor nicht wie ein Triebtäter. Woher weißt du denn, wie die sind? Wenn es zu offensichtlich wäre, wäre er ja wohl nicht mehr hier. True...
Professor Rymers Züge verhärteten sich und er richtete sich auf. „Soso...", sagte er ruhig, aber mit leichtem Spott in der Stimme. „Sie haben mich also oberflächlich im Netz überprüft? Einmal kurz gegooglet, bevor Sie herkamen?" Seine Augenbraue zuckte. „Vielleicht hätten Sie sich ein wenig mehr Zeit nehmen sollen, dann hätten Sie gesehen, dass all die schönen Kommentare von ein und derselben Person stammen."
Überrascht sah ich von ihm zu Lisha, der die Skepsis nur so aus den Augen sprühte. „Sie wollen also sagen, dass sich ein Mädchen diese Sachen ausgedacht hat? Warum sollte sie das wohl tun?" Der Professor lachte hart auf und erhob sich, sein Glas nachzufüllen. „Nicht, dass ich Ihnen antworten müsste, aber tatsächlich würde es mich stören, wenn ihre Freundin denken würde, der Professor ihrer Tochter hätte sich vielleicht an sie herangemacht."
Er sprach die Worte mit einer Abscheu aus, die die eher distinguierte und beherrschte Stimme dennoch zu durchdringen vermochte. Dann wandte er sich mir zu. „Denn das habe ich ganz sicher nicht. Meine Studentinnen sind in dem Alter, dass sie meine Töchter sein könnten. Und auch, wenn ich niemanden verurteilen möchte, der sich jüngere oder auch ältere Partner nimmt, sind sie zusätzlich auch noch meine Studentinnen."
Er atmete tief durch und sah Lisha nun wieder etwas gefasster an. „Und dieses Mädchen, welches im Netz nun diese Unwahrheiten verbreitet, hatte diese Distanz leider unbedingt überwinden wollen und nicht akzeptiert, dass es immer bei einer rein professionellen Beziehung bleiben würde. Leider sind manche dieser jungen Frauen noch sehr verträumt und nicht ganz in der Realität angekommen, wenn sie ihr Studium beginnen.
Da kommt es immer mal wieder zu Schwärmereien. Sowas, wie mit der Dame, die nun leider derart versucht, mit ihrem Frust umzugehen, gibt es zum Glück seltener. Doch gänzlich ungewöhnlich ist es leider auch nicht. Immer wieder gibt es diejenigen, die meinen, sie könnten einen mit Drohungen unter Druck setzen."
Er sah von der weiterhin sehr skeptisch dreinblickenden Lisha zu mir. „Oder warum meinen Sie, unterrichte ich weiterhin hier? Kam es nie zu einer Anzeige? Ist nie ein Disziplinarverfahren angeregt worden?" Lisha reckte das Kinn. „Weil sich die Frauen nicht getraut haben? Weil es ihrem Ruf geschadet hätte, vielleicht? Obwohl es nicht einmal ihre Schuld gewesen wäre?", giftete sie ihn an und er lächelte sacht. „Und das tun sie nun nicht? In den sozialen Medien? Die Reichweite ist deutlich größer, als bei einem kleinen Verfahren von der Uni oder einer Anzeige."
Lisha blieb stumm. „Aber ich sehe schon, dass ich Sie nicht überzeugen werde. Zum Glück muss ich das aber auch gar nicht." Sein Blick ging wieder zu mir und er neigte den Kopf. „Haben Sie denn noch irgendwelche Fragen, Miss Mulligan?"
„Mrs", korrigierte ich automatisch und er schmunzelte. „Natürlich, verzeihen Sie. Also, gibt es noch etwas, das Sie gern von mir wissen würden?" Ich überlegte, aber mein Kopf hatte gerade soviel zu durchdenken, dass ich ihn nur schütteln konnte. „Nein, vorerst wohl nicht, Professor Rymer", erwiderte ich und stellte mein fast leeres Glas auf den Tisch. Dann stand ich auf und reichte ihm meine Hand.
„Danke, dass Sie sich mit uns unterhalten haben und entschuldigen Sie, wenn wir Sie..." Ich kam ein wenig ins Stocken, doch er lächelte nur und nahm meine Hand. Die seine war warm und kräftig. "Keine Entschuldigung nötig, Mrs Mulligan", sagte er und sah auch zu Lisha. "Ich denke, es ist ganz natürlich, dass solche Gedanken entstehen, insbesondere, wenn die Tochter bei dem Professor studiert hat."
Er seufzte und ich spürte Mitgefühl in mir aufwallen. Aus einem Impuls heraus griff ich nach dem Kugelschreiber und dem Notizblock, die auf dem Tischchen neben der Eingangstür lagen und schrieb meine Nummer darauf, sie dem Professor reichend. „Falls Ihnen noch etwas einfällt", murmelte ich und er lächelte, während Lisha leise knurrte und mich hinauszog.
In mir brodelte heftige Irritation, da ich mir immer noch nicht ganz darüber im Klaren war, was ich von dem Professor halten sollte. Oder denken. Waren die Aussagen über ihn wahr, oder üble Nachrede? War er Täter, oder Opfer? Und hatte er recht mit Mike Roosevelt? Hatte er für Geld Beweise gefälscht? Eventuell auch bei Caissy?
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Was von uns bleibt
Mystery / Thriller„Ich weiß, wer es war. Du wirst nicht glauben, was ich rausgefunden habe!" Eine Nachricht die in Aislinns notdürftig gekittetes Leben hereinbricht und die vergebliche Hoffnung auf einen Neuanfang zerschmettert. Wenn am Ende von alten Gewissheiten un...