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Ich betrachtete das halb fertige Band vor mir. Meine Farbenwahl hatte sich auf ein hellgrün, dunkelgrün und dunkelblau beschränkt. Irgendwie fand ich grün wirklich schön. Es passte außerdem zu dem Dino auf meinen Hoodie. War grün jetzt meine Lieblingsfarbe?
Julien hatte sich für rot, dunkelblau und violett entschieden.
Rezo hatte hellblau, wie seine Haare, dunkelblau und schwarz genommen.
Felix flocht gerade mehr oder weniger erfolgreich rot, schwarz und dunkelblau.
Rewis Farben sahen aber fast am besten aus. Gelb, dunkelblau und weiß, ähnlich seinen gefärbten Haaren.
Wir hatten uns irgendwie darauf geeinigt alle die dunkelblaue Wolle zu nehmen, wenn es schon Freundschaftsarmbänder waren, auch wenn Felix immernoch nicht so begeistert schien. Er war auch der einzige, dem es trotz zahlreicher Erklärungen von Herrn Weschmann immernoch nicht so ganz gelang die Technik herauszufinden. Bei meinem sah man hingegen aus irgendwelchen Gründen einen deutlichen Fortschritt.
Und erstaunlicherweise lenkte mich die Beschäftigung ab. Das Konzentrieren auf meine Finger und was sie taten viel mir ungewöhnlich leicht. Herr Weschmann hatte uns Entspannungsmusik angemacht und lief immer wieder von einem zum anderen und half uns, wenn wir nicht weiterkamen.
Seit meinem Suizidversuch hatte ich mich nie so gefühlt wie jetzt. Die Atmosphäre hatte etwas unwirkliches. Als hätte man die Stille und die Gelassenheit aller Menschen eingefangen und in diesen Raum gefüllt. Kein negativer Gedanke schien irgendwie von Bedeutung zu sein und mein Kopf war nur auf das Band vor mir fixiert.
Dieser Zustand ist nicht dauerhaft.
Es war mir bewusst, aber mein Kopf wollte es nicht begreifen. Vielleicht konnte er auch einfach nicht. Wie das absolute Gegenteil von gestern schien es gerade zu sein. Ruhig. Friedlich. Farbenfroh.
Ich sah zu Rezo, der gerade über einen Kommentar von Julien zu seinem Band lachte:,,Naja, so sehr beißen meine Farben sich jetzt nicht."
Julien lachte ebenfalls:,,Wir sollten Farben nehmen, nicht schwarz, Rezo."
,,Pff, ich mag schwarz", Rezo zuckte grinsend mit den Schultern.
,,Mal wieder nicht richtig zugehört", mischte sich Rewi ein.
,,War ja klar", vermerkte auch Felix, der jedoch den Blick nicht von seinem Band nahm, ,,Man, ist das schwer!" Genervt ließ er die Wollfäden los und ließ sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls fallen. Dann atmete er tief durch.
,,Nanana", Herr Weschmann stellte sich hinter Felix, ,,Woran liegt es denn?"
,,Keine Ahnung", brummte Felix, ,,Bin wohl einfach zu dumm."
,,Niemand ist zu dumm", Herr Weschmann inspizierte Felix Band, ,,Was wir nicht können, müssen wir erst lernen. Damit bist du nicht dumm, Felix."
Er lächelte ihm aufmunternt zu und zeigte auf dessen rotes Band:,,Dieses Band musst du nur über das blaue legen." Mit einem geübten Griff, tat er dies und trat dann wieder zurück.
,,Und jetzt?", fragte Felix etwas motzig nach.
,,Jetzt legst du das schwarze über das rote", erklärte Herr Weschmann und beobachtete Felix dabei, ,,Siehst du, sehr gut!" Felix rollte mit den Augen und versuchte sich weiter an seinem Band.
,,Das sieht doch super aus", Herr Weschmann trat neben mich und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich zuckte zusammen und sah verwirrt zu ihm hoch.
,,Naja, etwas schief", murmelte ich dann. Das stimmte. Nur weil es besser als das von Felix aussah, war es nicht gut.
Herr Weschmann kniete sich neben mich:,,Wieso seid ihr immer so hart zu euch?" Er erwartete keine Antwort, sondern zupfte etwas an meinem Band herum. Erstaunlicherweise war es danach nicht mehr ganz so schief.
,,Danke", murmelte ich zerknirscht. Wieso bekam ich das nicht hin.
Herr Weschmann musterte mich einen Moment:,,Wie ich schon zu Felix sagte: Was wir nicht können, lernen wir. Niemand wird als perfekter Sportler geboren. Der Weg ist lang und schwierig, aber er endet an einem Ziel." Er lächelte und stand dann auf um sich Patrick neben mir zuzuwenden. Ich sah ihm einen Moment lang nach.
Bezog er sich auf ein Leben ohne Depressionen oder Suizid? Aber ich ignorierte den Gedanken. Gerade wollte ich mich nicht darin verlieren.
,,Ist das von dir?", fragte ich stattdessen Julien und zeigte auf das Bild mit dem Drachen an der Wand. Dieser sah von seinem Band auf, folgte meinem Blick und nickte:,,Ja, cool das du es erkennst."
,,Ist mega geworden", ich warf ihm ein Lächeln zu. War ausnahmsweise mal keine Lüge. Julien konnte wirklich gut zeichnen.
,,Das hat er in seiner ersten Kunsttherapie gemalt", erklärte Rezo, ,,Herr Weschmann war so begeistert, dass er es direkt aufgehängt hat."
,,Tja, bin halt ein Profi", Julien grinste und wandte sich nach einem letzten Blick auf sein Bild wieder seinem Band zu. Ich wandte mich ebenfalls meinem zu und legte eine Farbe über die nächste.
Wieso fand ich grün schön? Vielleicht weil sie mich an die Bäume draußen erinnerte? Hier drinnen gab es nur weiße Wände, aber draußen war doch fast alles grün oder?
Ich warf einen Blick durch eines der Fenster. Tatsächlich waren die Bäume dort jedoch kahl. Aber im Sommer sind sie grün. Mochte ich den Sommer?
Was mag ich eigentlich? Die Frage war merkwürdig. Sollte ich das nicht wissen? Wer wusste schon nicht, was er mag? Irgendwie hatte ich mich die letzten Jahre mehr auf das beschränkt, was ich nicht mochte.
Zum ersten mal stellte ich mir wirklich die Frage, was ich mochte. Es versetzte meinem Herz ein merkwürdiges Ziehen. Ich wollte wissen, was ich mochte.
Mein Blick wanderte wieder zu meinem Band. Ich mag grün. Der Gedanke ließ mich komischerweise lächeln.
Ich sah zu den Anderen. Ich mag Rezo, Julien, Rewi und Felix.
Vermutlich sollte ich mir dumm dabei vorkommen, aber das tat ich nicht. Stattdessen wanderte mein Blick durch den Raum und blieb an einem Bild von einem Hund hängen. Hunde mag ich auch. Sie schienen viel glücklicher zu sein als Menschen.
Ich sah mir die anderen Bilder an. Auf einem war ein Sonnenuntergang abgebildet. Über einem türkisblauen Meer. Ich mag Sonnenuntergänge. Aber die mochte warscheinlich jeder. Oder?
Ich sah wieder auf mein Band. Was passierte mit mir? Wieso dachte ich gerade so anders als die letzten Jahre? Und wieso konnte es nicht immer so sein?
Denn es würde nicht für immer sein. Es war der einzige negative Gedanke, der sich hinter den neuen positiven versteckte.

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