Kapitel 1

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Viv! Aufwachen!", meinte May und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht. Meine beste Freundin grinste mich breit an und zog mich am Ärmel Richtung Schule.

„Was?", fragte ich und folgte der Blonden, die sich mit größer werdenden Schritten dem Gebäude näherte. Sie kicherte und deutete auf Cedric, der an der Eingangstür angelehnt stand. Die Pose würde ihn besser aussehen lassen, hätte er nicht dieses blaue Shirt an, wie es jeder Junge in der Stadt tat. Das weibliche Geschlecht trug Rote, wobei mir die Farbe überhaupt nicht stand. Morgen würde ich endlich eine blassere Farbe bekommen, wie meine Mutter sie nun trug. Kein grelles, stechendes rot mehr.
Cedrics Haare waren in einer stylischen Frisur nach oben gegelt und seine blitzblauen Augen suchten den ganzen Campus ab, bis sein Blick an mir hängen blieb. Sofort wandte ich mich wieder May zu, die mich spöttisch ansah.
„Du hast ihn mal wieder beobachtet", flüsterte sie mir verführerisch zu
und zog mich durch die Eingangstür, vorbei an Ced.
„Habe ich gar nicht!", versuchte ich mich zu verteidigen, doch Mays Blick zeigte mir, dass sie mir nicht glaubte. Wie sollte sie auch? Sie war meine beste Freundin und konnte auf Anhieb feststellen ob ich log, was ich von mir leider nicht behaupten konnte. Meine Menschenkenntnisse waren grottenschlecht.
„Heute ist der letzte Schultag! Ich bin schon so gespannt auf morgen!", wechselte sie das Thema und lotste mich in den Klassenraum, wo wir uns auf unsere üblichen Plätze setzten. Die Verlobungsfeier, auf der der Partner auf einen wartete, stand morgen an. Am Tag danach durften wir unsere zukünftigen Berufe wählen.
„Weißt du schon was du als Arbeit nimmst?", fragte ich sie, doch sie ging nicht darauf ein, sondern sprach vom morgigen Tag weiter.
„Ob ich ihn kenne? Glaubst du er ist hübsch? Was, wenn ich ihn nicht mag oder er mich nicht?"
„Beruhige dich. Alles wird gut", redete ich ihr ein und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. „Dein Partner wird der hübscheste von allen sein und charmant wie kein anderer. Außerdem wird er dich mögen müssen, sonst würde er dich nicht wählen", antwortete ich ihr und lächelte sie leicht an. Innerlich jedoch zitterte mein ganzer Körper vor Anspannung, doch ich versuchte meine Nervosität zu kontrollieren und sie May nicht zu zeigen, da wir beide sonst hyperventilierend am Boden liegen würden. Ich musste für uns beide die Ruhige bleiben, obwohl ich genauso gerne Antworten hätte.
„Ich glaube du bekommst Ced", meinte May und zwinkerte mir zu. „Du bist schon ewig in ihn verknallt und er in dich. Er wird dich auswählen."
„Natürlich", murmelte ich sarkastisch, doch ich betete schon seit Wochen, dass es so werden würde. Ich würde durch die Tür gehen und ihn erblicken, wie er freudestrahlend auf mich zuging und mich sanft auf die Lippen küsste. Ich würde in seinen Armen liegen und ihn endlich als Mein betrachten können.
„Erde an Lou!", sagte May neben mir und fuchtelte wieder mit ihrer Hand vor meinen Augen. Ich blinzelte ein paar Mal und sah zu ihr, die mich wissend anlächelte.
„Was grinst du so?", murmelte ich und stand auf als unsere
Lehrerin, Mrs Gollow in den Raum trat.
„So, liebe Kinder oder sollte ich Erwachsene sagen? Morgen steht euer großer Tag bevor. Danach wird euer Leben etwas anders verlaufen. Ihr werdet arbeiten, Kinder bekommen...", ihre Stimme wurde immer leiser. Mein Gehirn sah nur noch den morgigen Tag und blendete den Rest aus, weshalb ich die Schulglocke überhörte und May mich schütteln musste.
„Lou! Das Tagträumen muss endlich mal ein Ende haben", meinte sie und lächelte mich an. „Wir haben jetzt aus. Eine Stunde am allerletzten Schultag muss wohl reichen, was?"
Ich nickte und erhob mich aus meinem Platz. Wir verließen das letzte Mal in unserem Leben das Schulgebäude und stiegen in den überfüllten Zug. Dort war es stickig und der Schweißgeruch fand seinen Weg in meine Nase. Außerdem hatten wir keinen Sitzplatz abbekommen, weshalb wir uns an einer Stange festklammerten, um bei der Geschwindigkeit nicht zu fallen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir an unserer Haltestelle an. Ich schloss die Augen und atmete tief ein, als ich den stinkenden Zug verließ.
„Immer wieder ein tolles Gefühl", meinte ich und lächelte meine beste Freundin an, die neben mir ebenfalls tief die Luft einsog.
Wir verließen die kleine Haltestelle und bogen in unsere Wohnstraße ein. Kurz bevor wir an meinem Haus ankamen, zog ich May am Ärmel zurück und sah ihr in die Augen.
„Du weißt, dass das möglicherweise unser letzter gemeinsame Tag ist?", fragte ich sie und sah sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen an. May nickte nur und sah traurig zu Boden. Ich hatte versucht es die ganze Woche über zu vergessen, aber irgendwann mussten wir uns den Tatsachen stellen. Wir würden uns nie wieder sehen. Eine zufällige Begegnung auf der Straße war möglich, wäre jedoch nicht von langer Dauer. Mit der Zeit wäre unsere Freundschaft nur noch eine freudige Erinnerung, an die wir uns gerne festklammerten und vielleicht eine Träne vergossen. Ab morgen würde alles anders werden.
„Wenn wir morgen nicht gerade Glück haben, werden wir uns sehr wahrscheinlich nie wieder sehen", meinte sie und sah mir wieder in die Augen. Ich zog sie an mich und drückte sie so fest, dass sie nach Luft schnappte als ich sie wieder losließ.
„Ich wünschte wir könnten uns heute noch einmal treffen", träumte ich und lächelte sie leicht an. Ihre Mundwinkel sanken noch tiefer. Sie hasste diese Regel genauso sehr wie ich. Keine Freunde treffen. Weshalb man damals dieses Gesetz aufgesetzt hatte war mir immer ein Rätsel gewesen.
Ich nahm Mays Kinn zwischen die Finger und zwang sie zu mir nach oben zu sehen, damit wir wieder auf Augenhöhe waren.
„Nicht traurig sein. Ich möchte dich lächelnd in Erinnerung haben", meinte ich und zwang mich selbst dazu die Mundwinkel zu heben. Ich versuchte mir ihr Gesicht genau einzuprägen. Die fast schwarzen Augen, das blonde Haar, die langen Wimpern und die kleinen Grübchen an ihren Mundwinkeln. Ich wollte sie für immer bei mir haben, aber das war unmöglich. Achtzehn Jahre kannten wir uns und nun gingen wir, gezwungenermaßen, getrennte Wege.
„Morgen wird toll", versuchte ich uns beide aufzumuntern und lächelte sie an. Ich umarmte sie ein letztes Mal und ging durch das Gartentor zur Haustür. Dort drehte ich mich noch einmal um und lächelte die noch dastehende May an.
„Du bist und bleibst immer meine beste Freundin", beteuerte ich.
„Und du meine."
Mit diesen letzten Worten drückte ich die Klinke hinunter und trat ins Haus. Ich betrat mit hängender Miene in die Küche, wo mich meine Eltern bereits freudestrahlend erwarteten. Sie hatten heute frei bekommen, da es auch ihr letzter Tag mit mir war. Ich lächelte sie traurig an und setzte mich mit gesenktem Blick an den Tisch.
„Kopf hoch, Süße. Morgen ist dein Tag", versuchte mich meine Mutter aufzumuntern und nahm meine Hand in ihre. Ich hob den Blick und sah meiner Mutter in die Augen. Sie wirkte glücklich. Man sah keinen Hauch von Trauer in ihrem Gesichtsausdruck, als wäre es ihr herzlich egal, dass sie mich heute zum letzten Mal sah. Mich, ihr einziges Kind. Dies versetzte mir einen Stich ins Herz. Sie war sonst nicht so. Normalerweise fühlte sie immer mit mir und verstand mich auf Anhieb. Sie zeigte mir täglich ihre Liebe und sei es durch ein kleines „Hab dich lieb".
Mein Blick wanderte zu meinem Vater, der genauso wenig bedrückt schien. Meine Eltern wirkten auf einmal so anders und fremd. Als würde ich ihre wahre Person nicht kennen und mein gesamtes Leben mit ihnen nicht existent wäre. Ich schüttelte den Kopf und sah wieder zu meiner Mutter, die noch immer breit grinsend vor mir saß.
„Ich geh in mein Zimmer", meinte ich ausdruckslos und stieg rasch die Treppe empor. Ich schloss die Tür hinter mir leise, warf mich auf mein Bett und vergrub meinen Kopf im Kissen. Mein letzter Tag in diesem Zimmer. Nie wieder ein Zimmer und ein Bett nur für mich allein. Wie es mit einer neben mir liegenden Person werden würde? Unangenehm? Schön? Auf jeden Fall fremd.
Ich drehte mich auf den Rücken und starrte nachdenkend an die kahle Decke. Morgen würde ich in ein eigenes Haus mit einer mir vielleicht fremden Person ziehen. Ich würde meine beste Freundin und meine Eltern verlieren und sie womöglich nie wieder sehen. Manchmal hasste ich die Stadt dafür, aber es war zu unserem Besten. Wir würden ein eigenständiges Leben führen und neue Bekanntschaften machen, die möglicherweise besser als die vergangenen waren. Aber das würde nie passieren. Meine Eltern und May waren meine drei liebsten Menschen, die ich nie verlassen wollte. Und genau das trat morgen ein.
Nach langer Zeit, die ich mit Deckenstarren verbracht hatte, hievte ich mich aus dem Bett und ging ins Esszimmer, wo das Essen fertig am Tisch stand. Ich hatte ihnen nicht gesagt was ich haben wollte, damit es der Essenslieferant bringen konnte, jedoch ließ mich der Geruch auf Lasagne tippen. Mein Lieblingsgericht. Mit knurrendem Magen setzte ich mich zu Tisch, wo meine Eltern auf mich gewartet hatten.
„Guten Appetit", wünschten wir uns gegenseitig und fingen an zu essen. Ich stocherte trotz leeren Magens mehr in der Lasagne, als sie wirklich zu essen.
„Was ist los, Süße? Keinen Hunger?", fragte mich meine fürsorgliche Mutter. Ich zuckte nur mit den Schultern und stocherte weiter.
„Morgen ist ein großer Tag. Du solltest essen", ermutigte mich mein Vater. Ich wusste, dass die beiden keine Ruhe geben würden, weshalb ich die halb zermatschte Lasagne hinunter würgte.
Nach dem ruhigen Essen stieg ich wieder die Treppe empor, um in mein Zimmer zu gehen, wurde jedoch von meiner Mutter davon abgehalten.
„Möchtest du mit uns ein letztes Mal einen Film sehen, Süße?", fragte sie mich. Ich drehte mich zu ihr und lächelte sie an. Natürlich wollte ich. Es war fast Tradition jeden Abend zusammen einen Film zu sehen, wobei es immer schwerer wurde einen guten zu finden, den wir noch nicht kannten. Wie ich das vermissen würde. Mit meinen Eltern gemütlich auf der Couch sitzen und lustige Kommentare zu den Bildern vor uns geben.
Ich setzte mich zwischen meine Eltern und nahm die Popcornschüssel auf meinen Schoß. Heute war ein alter Film aus dem Jahre 2018 dran, der damals große Popularität genossen hatte. Seit dem 23. Jahrhundert produzierten die Menschen keine Filme mehr, weil sie es als nicht notwendig empfanden mehr zu drehen, da ohnehin bereits genug auf dem Markt waren.
Der Film fesselte mich und zog mich in seinen Bann. Die Qualität damals war zwar schon nicht so schlecht, aber nicht zu vergleichen mit den Filmen aus dem 22. Jahrhundert. Dennoch hatte dadurch dieser Film einen gewissen Touch, der es mir leicht machte es zu genießen. Eigentlich hätten wir drei bereits Kommentare zu den Klamotten damals und den furchtbaren Autos abgeben müssen, aber wir blieben still. Keiner gab einen Mucks von sich, sondern starrte konzentriert auf den Fernseher. Als der Bildschirm schwarz wurde und die leere Popcornschüssel abgewaschen im Regal stand, machte ich mich mit einem flüchtigen „Gute Nacht" in mein Zimmer. Erschöpft legte ich mich im Pyjama auf das Bett und kuschelte mich in die weiche Decke. Mein Blick wanderte durch den Raum. In die Ecke, wo mein Schreibtisch stand und ich für gewöhnlich bis spät in die Nacht lernte, um einen guten Job ausüben zu dürfen. Dann in die andere, wo mein Kleiderschrank mit immer den gleichen Klamotten stand. Zu meinem Nachtkästchen, wo ein glückliches Foto meiner kleinen Familie stand. Ich nahm den Rahmen an mich und betrachtete das Bild genauer. Meine Finger glitten über das kühle Glas und den glatten Holzrahmen. Meine Mutter, mein Vater und ich sahen mir mit einem riesigen Grinsen im Gesicht direkt in die Augen. Damals war ich 15, was also nicht allzu lange her war. Das Foto hatte, wie jedes andere Familienfoto auch, ein professioneller Fotograf geschossen. Ich drehte es um und öffnete den Verschluss, um es aus dem Rahmen zu ziehen. Ich faltete das nackte Foto zusammen und legte es behutsam auf das Nachtkästchen. Auch wenn es gegen die Regeln war, ich wollte etwas bei mir haben, das mich an meine Eltern erinnern würde.
Ich schloss meine Augen und hieß die Dunkelheit willkommen. Morgen würde ein sehr großer Tag werden. Die Frage war nur... Wollte ich das?

ObliviousWhere stories live. Discover now