Der schrille Klang von mindestens einem Dutzend Warnglocken zerriss plötzlich die Stille und erschütterte Bambi bis ins Mark. Erschrocken zuckte der Elf zusammen und brach seinen Dietrich im Türschloss ab, das er gerade noch verzweifelt versucht hatte aufzubekommen. Seit einer geschlagenen Stunde irrten sie nun schon durch diese Festung, bisher jedoch ohne das zu finden, was sie suchten. Dafür jedoch auch ohne Alarm auszulösen... was sich soeben geändert hatte. Nur warum -
„Sieh doch, da steht Berg!", rief Mario neben Bambi glücklich und zeigte auf einen großen roten Knopf. „Und den zu drücken hat sogar irgendwas gemacht!" So weise der Phönix auch war und trotz Bambis unbändigem Respekt für ihn, zuckten nun seine Augenlider vor Ungläubigkeit.
„Alarm. Da steht... Alarm", murmelte Bambi und versuchte sich ein Seufzen zu verkneifen. Es war erst ein paar Tage her, dass der Elf den Phönix in seinem Wald gefunden hatte, doch seither war sein Leben ein einziges Abenteuer geworden.
„Hä?", fragte Mario verwirrt und starrte erneut auf den Knopf. „Ach ja stimmt. Hab ganz vergessen, dass ich ja gar nicht lesen kann."Bambi biss die Zähne zusammen. Dafür hatten sie jetzt keine Zeit. Weshalb auch immer der Phönix das getan hatte, sie mussten sofort verschwinden, bevor... Ein lauter Schlag riss Bambi aus seinen Gedanken. Wenige Meter vor ihnen war ein Einhorn zu schnell um die Ecke des Gangs galoppiert und gegen die gegenüberliegende Wand geprallt. Aber nicht irgendein Einhorn. Ein tollwütiges Wacheinhorn. Jedes Einzelne schlimmer, als eine ganze Meute Hunde.
„Ach du erstickende Würgefeige", hauchte Bambi. Dann schnappte er sich Mario und nahm so schnell er konnte die Beine in die Hand. Wo ein Wacheinhorn war, waren auch noch andere. Und mit denen war nicht zu spaßen, wenn man erst einmal unerlaubt in ihr Territorium eingedrungen war. Brutale Tiere... Ein Schauer lief Bambi über den Rücken.
„Das hier ist doof!", rief das Huhn, als es in Bambis Armen etwas durchgeschüttelt wurde. Der Sprung von einem Geländer in das darunter liegende Stockwerk schien die Sache auch nicht besser zu machen.
„Es tut mir wirklich außerordentlich Leid!", rief Bambi, als er sich nach der Landung wieder aufrappelte. Schwer schnaubend kamen die Einhörner vor dem Geländer ruckartig zum Stehen. Das flackernde Licht der Fackeln neben ihnen verlieh ihren Gesichtern einen dämonischen Ausdruck.
„Ich weiß sowieso nicht, warum wir hier sind. Das war eine wirklich blöde Idee von dir Bambi. Das nächste Mal solltest du lieber, so wie ich immer, eine gute Idee haben", grummelte Mario beleidigt. Der neue Untergebene des Phönixes sah aus irgendeinem Grund verwirrt aus. Egal - Mario hatte genug Durchblick für beide von ihnen. Bambi schüttelte während er rannte nur den Kopf.
„Der Mensch, dem diese Festung gehört, besitzt eine große Sammlung an alten Artefakten - darunter auch Bücher und Karten. Der Berg aus eurer Beschreibung, auf dem wir das Artefakt eures Begehrens finden können, ehrenwerter Mario, kommt mir bekannt vor. Aber dessen genaue Örtlichkeit entzieht sich meiner Kenntnis - ich bitte euch um Verzeihung - doch ich hoffe eine entsprechende Karte in der Bücherei dieser Festung finden zu können", erklärte der Elf. Mit vielen, vielen überflüssigen Worten - doch Mario hatte es schon längst durchblickt. In dieser Burg hier war etwas, dass sie brauchten.
„Also, worauf warten wir noch?", piepste Mario empört. „Erst Karte und dann Pizza!"Auf einmal blieb der Elf stehen. Er schloss die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. Nach altem Pergament roch es in Richtung des rechten Ganges... Allerdings roch es dort auch stark nach Einhorn. Bambi atmete tief durch. Sie hatten keine andere Wahl, ohne die Karte würden sie scheitern bevor ihre Reise überhaupt begonnen hatte.
„Ich fürchte es ist nicht ganz so einfach... Der Besitzer dieser Burg hat sicherlich nicht das geistige Vermögen eure ehrenwerten Ziele zu erkennen. Oder den nötigen guten Charakter, um euch zu unterstützen. Und daher...", und hier machte der Elf eine dramatische Pause, „...müssen wir uns die Karte leider auf eine weniger konventionelle Weise aneignen."
„Hä?", fragte Mario verwirrt. Was genau meinte der Elf denn jetzt schon wieder?
„Wir müssen...", sagte Bambi in einem erschütterten Tonfall, es nur zu sagen fiel dem sonst so rechtschaffenen und ehrlichen Elfen schwer, „die Karte klauen."
Das Huhn sah ihn mit großen Augen an. Was war klauen noch einmal? Wenn man etwas ohne Geld bekam? Zumindest hatte Mario den Begriff schon ein paar Mal gehört, wenn er etwas von einem Verkaufsstand mitgenommen hatte. Er verstand kaum wo das Problem war - Geld war so kompliziert, es war doch viel leichter Dinge einfach zu nehmen.
„Okay", stimmte er schließlich zu, als der Elf ihn nur erwartungsvoll anschaute, offensichtlich auf die Zustimmung seines Anführers wartend. Dann nickte Bambi und folgte vorsichtig dem Geruch von Pergament und tollwütigen Einhörnern. Die Glocken läuteten noch immer dröhnend über ihren Köpfen, sie wirkten fast als hätten sie ihren eigenen Herzschlag. Ein Schauer zog sich über Bramboriels Rücken. Er hatte den Wald schon mehrmals verlassen, hatte es aber nie sonderlich eilig gehabt die Erfahrung zu wiederholen. Außerhalb wimmelte es außerhalb seines Waldes vor Menschen, die laut waren und nichts zu schätzen wussten. Viel schlimmer waren aber die Pflanzen - kaum ein Baum außerhalb der westlichen Altwälder schien überhaupt ein Bewusstsein zu haben, und die, die eines hatten waren in ihren Unterhaltungen fast so einfältig wie die Menschen selbst. Redeten über Unsinn wie Ernten und neue Beziehungen... Unerträglich. Aber vor allem dieses Wohnen in steinernen Gebäuden statt in Bäumen... Vorsichtig strich Bambi mit der Hand über die kalten Wände des Ganges. Diese Kälte war fast unerträglich und so trist... Bramboriel würde die Menschen einfach nie verstehen. Ein Glück hatte er den Phönix, der ebenfalls über diesen primitiven Gedankenebenen stand. Für ein heiliges Wesen wie ihn würde er den Wald jedes Mal aufs Neue ohne zu zögern verlassen. Es war eine unbegreifliche Ehre, von einem heiligen Wesen auserwählt zu werden. Viele Elfen warteten ihr ganzes Leben auf eine solche Chance, doch nur wenigen wurde sie zuteil. Mit Mario reisen zu dürfen bedeutete Bambi wirklich alles. Also durfte er sich keine Fehler erlauben.
Und so schlich Bambi so leise er konnte - und das war für einen Elfen wirklich sehr leise - den Gang entlang. Bis ein Schnauben durch die Gemäuer hallte. Wenige Sekunden später waren vor ihnen auch schon Hufschläge zu hören. Hektisch sah sich Bambi um. Doch aus dem Gang, aus dem sie gekommen waren, war nun das flackern von Fackeln zu sehen und Stimmen zu hören. Wachen. Sie saßen in der Falle. Bambi atmete tief durch. Mit einer schnellen Bewegung schnappte er sich Mario, hob ihm den Schnabel zu und quetschte sich mit zwei großen Schritten in einen Spalt in der Wand neben einem großen Wandteppich. Er holte tief Luft und hielt den Atem an... Die Hufschläge der tollwütigen Einhörner kamen immer näher. Noch einen Meter. Noch einen Schritt. Nun standen sie direkt neben ihnen. Bambi drückte sich noch weiter in die Schatten. Tief atmeten die Tiere durch die Nüstern ein. Ein Glück roch der Waldelf nach Erde und Steinen, doch Mario? Wie roch ein Phönix für ein Einhorn? Eines der Einhörner blähte misstrauisch die Nüstern auf. Mit einem Schnauben lief es drei Schritte in die Richtung ihres Verstecks. Im Dämmerlicht konnte es die beiden nicht sehen, doch es schien etwas Ungewöhnliches gerochen zu haben. Bambi biss die Zähne zusammen. Das Einhorn stand fast direkt vor ihnen. Nur noch ein Schritt und die Nüstern des Tieres würden sie berühren... Und da schwenkte es den Kopf plötzlich nach rechts. Das Einhorn schnupperte am Wandteppich, an dem wohl einige Kekskrümel zu hängen schienen. Zufrieden brummend schleckte das Einhorn die Krümel ab und trottete dann mit den anderen weiter den Gang entlang. Bambi fiel ein Stein vom Herzen. Erleichtert atmete er aus und löste seinen Griff von Marios Schnabel. Ein Fehler.
„Heilige scheiße, sehen diese Ladys schick aus...", sagte Mario verträumt. Noch bevor Bambi überhaupt Luft holen konnte, um etwas zu sagen, ging das Huhn bereits in Flammen auf. Alles was übrig blieb, war ein Aschehaufen. Bambi biss die Zähne zusammen. Auch wenn er es mittlerweile schon ein oder zwei Mal erlebt hatte, so hatte er sich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass der Phönix verbrannte, sobald er fluchte. Aber nicht nur der Elf war von dieser Eigenschaft Marios irritiert. Die Stichflamme hatte zu Bambis Leidwesen auch die Aufmerksamkeit der Einhörner auf sich gezogen. Wild schnaubend drehten sich die Tiere um und starrten Bambi mordlustig an, der momentan lediglich ein paar Krümel von Marios Asche in den Händen hielt. Blutdurst glänzte in ihren Augen. Rasend vor Wut senkten die Einhörner ihre Köpfe und stürmten Horn voran auf den Elfen zu. Fieberhaft versuchte er in der kurzen Zeit die Asche mit den Händen zusammen zu kehren. Leider wenig erfolgreich. Erschrocken sprang Bambi in der letzten Sekunde zur Seite, bevor er von einem Einhorn zu Schaschlik verarbeitet werden konnte. Mario dagegen hatte weniger Glück. Während das Einhorn durch seine Asche stob und sie durch die Luft wirbelte, rematerialisierte sich der Phönix direkt vor der Nase des Tieres. Mario schrie, das Einhorn wieherte schrill. Erschrocken machte es einen Bocksprung und verschwand hektisch buckelnd mitsamt dem Huhn den Gang entlang. Ein Federtier im Gesicht kleben zu haben gefiel wohl auch einem Einhorn nicht. Bambi konnte das nachvollziehen... Der Elf schüttelte den Kopf. Darum ging es jetzt nicht.
„Mariiiooooo!", rief Bambi und wollte dem Huhn hinterher eilen, doch ihm wurde der Weg durch die anderen Einhörner versperrt. „Kruzefix...", murmelte Bambi. Na gut. Der Elf zog mit beiden Händen seinen Bogen. Sie hatten es so gewollt...Am anderen Ende der Festung sprang ungefähr zur gleichen Zeit ein Zentaur fluchend aus dem Weg eines Einhorns und galoppierte um die nächste Ecke. Ein Blick nach hinten verriet ihm, dass er noch immer von sieben der Tiere verfolgt wurde. Das Achte war mit seinem Horn in der Wand stecken geblieben. Immerhin waren es weniger als das letzte Mal, als er von ihren Artgenossen verfolgt worden war. Trotzdem war die Situation nicht ideal. Mit den tollwütigen Einhörnern konnte Naan umgehen, aber die waren momentan sein geringstes Problem. Jede Situation in der tollwütige Einhörner nicht das größte seiner Probleme waren, sollte wahrscheinlich deutlich schlechter als ideal eingestuft werden. Konnten die Menschen nicht wenigstens ein Mal den Anstand haben den Diebstahl eines historischen Artefaktes zuzulassen? Aber nein, stattdessen war das Tor zur Festung geschlossen worden, der Hebel jenseits der Reichweite eines Zentauren und Naan somit eingesperrt. Mit tollwütigen Einhörnern. Die eine ungesunde Vorliebe dafür hatten, nach seinen Flanken zu schnappen. Aber so leicht würden sie ihn nicht erwischen. Wenn er sich richtig erinnerte, galoppierte er gerade in Richtung des Innenhofes der Festung. Ein Innenhof, der Tore hatte. Und eine Sache zumindest, hatte er den anderen Vierbeinern zuvor: Hände.