Der Weihnachtsmann hatte ihm seinen ersten Wunsch erfüllt – oder wer immer dafür zuständig sein mochte, sich des Weihnachtswetters anzunehmen. Es schneite.
Aber seitdem man ihn an der letzten geräumten Straße abgesetzt hatte und Herr Pastell die letzten Kilometer zu seinem Elternhaus zu Fuß entlangstapfte, in finsterster Nacht und mit Nichts als einer Taschenlampe bewaffnet, begann er sich zu fragen, ob er Schnee immer noch so schön fand wie in seinen Kindheits- und Jugendtagen.
Er hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen und sein Freund, der ihm noch einen Gefallen geschuldet und sich um die Fußfessel gekümmert hatte, hatte lediglich einen schwarzen Mantel übriggehabt, der Herr Pastells hagerer Gestalt noch einigermaßen schmeichelte.
Also zwang seine Eitelkeit ihn dazu, zu frieren. Und je länger er so vor sich hinlief, desto deutlicher nahm er seine von der Kälte geschärften Gedanken wahr, die etwas in ihm auslösten, womit er in seinem Leben nur äußerst selten zu kämpfen gehabt hatte: Zweifel.
Er wusste, dass man anderen etwas schenkte, um ihnen eine Freude zu machen. Daher wunderte es ihn, weshalb seine Schwester so gar nicht freudig geklungen hatte, als er ihr am Telefon von seiner Idee erzählt hatte.
Vermutlich war sie einfach überrumpelt worden. Aber wenn sie sich nun doch nicht über das Geschenk freuen würde, das er ihr machen wollte? – Er ärgerte sich, dass er Lania nicht besser zugehört hatte. Um zu verstehen, was andere empfanden, musste er sich konzentrieren und durfte sich dabei nicht von seinen eigenen Plänen ablenken lassen. Das war das Schwerste und zugleich Hilfreichste, was er sich in seiner Zeit in der Forensischen angeeignet hatte. Aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, beherrschte es noch nicht wirklich gut.
Seine Gedanken schweiften zu seiner Mutter. Sie würde inzwischen alt sein, viel älter, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Jane war eine wankelmütige Frau, die sich von verrückten und unrealistischen Träumen verführen ließ – Träume, die ihr zum größten Teil von Pavlov Pastell eingeflüstert worden waren, dem Vater von Patrick. Janes Sohn hatte schon ganz früh versucht, sie zur Vernunft zu bringen und ihr Pavlovs wahres Gesicht zu zeigen. Doch sie hatte sich weiter von ihm blenden lassen.
Solange, bis ihr Sohn die Kunst für sich entdeckte. Oder, besser gesagt, seine Interpretation von Kunst. Und heute wollte er seit langem ein neues Werk erschaffen – aber nicht für sich. Es sollte kein belangloses Geschenk, keine leere Geste sondern etwas von Bedeutung sein, das er seiner Schwester vermachte.
Herr Pastell hatte sich seit mehreren Wochen akribisch auf diesen Tag vorbereitet. Aber er vermisste die prickelnde Vorfreude, die spritzige Euphorie beim Gedanken daran, seine Vision in der Realität zu manifestieren.
„Ich bin Virtuose", versuchte er seine Zweifel mit seiner eigenen Stimme laut zu vertreiben. „Es wäre eine Schande, würde ich mein Talent niemals mehr zur Geltung kommen lassen – besonders dann nicht, wenn es um die Verbesserung der Welt geht."
Er zog den Mantel enger um sich, als das alte Herrenhaus in Sicht kam. Es beugte sich schwer unter der Last des Schnees auf seinen maroden Dächern. Eigentlich hatte sich Jane bemüht, das Haus in Schuss zu halten. Zumindest das – wo sie schon ihre Kinder Stück für Stück verloren hatte. Herr Pastell biss die Zähne zusammen.
Mit einer Möglichkeit, die seine Geschenkidee vereiteln könnte, hatte er sich gar nicht befasst...
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Advent, Advent - Die Feder brennt! Vol. I: Fluch und Segen.
Short StoryEs weihnachtet sehr! Aber wo, wann und wie? Communitytime auf Instagram und Facebook - Eure Kommentare bestimmen den Verlauf der Geschichte und worum es geht - fortlaufend wird alles eingebunden! - Wird's wild oder schnuckelig? Lassen wir uns überra...