Am liebsten hätte Valorie geschrien.
Doch sie wartete eine höfliche Anzahl an Sekunden, um dem Taktgeber Zeit zu gewähren, den Bar-Bereich zu verlassen. Erst dann erlaubte sie sich, ihre Hände zu Fäusten zu ballen.
Manchmal wünschte Valorie, sie könnte ihrem Frust Ausdruck verleihen. Doch sie wagte es nicht, zu fluchen, oder zu weinen. Stattdessen jagte sie ihre Fingernägel in ihre Haut und presste die Lippen aufeinander.
Sie löste ihren Klammergriff nicht — selbst dann nicht, als sie aus der Tür stürmte, um auf Theodores Bar zuzuhalten.
Die Gänge glichen einem gleichbleibenden, uneingerichteten Labyrinth, doch Valorie navigierte zielsicher zu ihm.Sie riss die Tür auf, ohne zu klopfen. Der Geruch neuer Möbel stand noch immer in der Luft — dieses Mal hatte es eine beruhigende Wirkung für ihre Nerven. Eine Dartscheibe leuchtete an der Wand. Ihre violett-grün-blauen LEDs spiegelten sich auf den Weinflaschen, die darunter standen. »Theodore«, rief sie.
»Bin hier! Chaosbeseitigung.«
Valorie riss desorientiert den Kopf herum, bevor sie auf die Stahltreppe zuhielt, die an der Wand aufragte. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie in Theodores Privatbereich war — aber jedes Mal war sie von der Übergröße der Räume erschlagen worden.
Der Mann stand in seiner Küche. Hier verbrachte Theodore den größten Teil seiner Freizeit. Sein Interesse am Kochen konnte niemand hemmen. Einmal zu oft lief er durch das schwarze Herz, um seine Gerichte unter den anderen Richtern zu verteilen.
Er schob einige Töpfe zurück in die Regale unter der Theke. Die anderen Oberflächen waren bereits freigeräumt worden. In seinem Schlafzimmer konnte Valorie einige Kleiderstapel sehen, die auf den Boden gelegt worden waren.
Scheinbar hatte er mit dem Taktgeber tatsächlich jeden Bereich der Bar abgesucht.
Valorie spürte, wie seine Anwesenheit ihren Herzschlag beruhigte. Am liebsten hätte sie sich in das Gefühl zurückgelehnt und allen Kummer gebeichtet, doch so viel Vertrauen konnte sie sich nicht wagen. »Es kann doch kein Zufall sein, dass Finchs Dokumente weg sind.«
»Ich glaube sie ist einfach durchs System gerutscht, irgendwie«, antwortete Theodore matt. In seinen Augen stand kein eindeutiger Ausdruck, als er Valorie ansah. Doch ein ehrliches Lächeln kitzelte seine Lippen, als sie den Blick erwiderte. »Das würde erklären, wieso sie bei mir aufgetaucht ist, als ich nicht da war. Vielleicht ist sie früher als erwartet gestorben.«
»Sie hatte einen Unfall.«
»Ich weiß.« Theodore schob eine Backform auf die Arbeitsplatte. »Ich habe seit Finch hier ist keine Gäste mehr empfangen. Also hab' ich mich ein wenig schlau gemacht und bin in die Büroabteilung gehuscht. Ich habe die Kollegin gesucht, die Finchs Memoiren gelesen und bewertet hat.«
»Erinnert sie sich da noch dran?«
»Anders als du lassen wir uns nicht jeden dritten Tag unsere Erinnerungen auslöschen.«
Valorie schluckte schwer — doch die Frage in ihrem Kopf ließ sie unruhig werden: Machte sie es wirklich so häufig? War es ein Fehler, so viel vergessen zu wollen? Wenn sie könnte, hätte sie Finch längst wieder aus ihrem Gedächtnis verbannt — in der Hoffnung auch alle Beweise zu verdrängen, die die Frau hinterlassen könnte. »Und? Was hat die Kollegin gesagt?«
»Finch scheint nicht gelogen zu haben. Also, du musst wissen, sie hat-«
»Den Freund ihrer Schwester ermordet, ich weiß.«
Theodores Blick über seine Schulter war nun positiv überrascht. »Ach. Du hast schon dein Gespräch mit ihr geführt. Na dann.«
Ja, leider, wollte sie antworten. Sie wollte ihn anflehen, sein Urteil über Finch zu erfahren, damit sie dasselbe wählen könnte. Noch nie hatte sich Valorie in ihrer Arbeit so eingeschränkt gefühlt — konnte sie wetten. Ihr Urteil klebte in ihrem Kopf, mit der bitteren Süße von Ahornsirup.
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Teufelsherz
FantasyONC 2024 »Wenn das Leben so schrecklich ist, dass es sich nicht von der Hölle unterscheiden lässt, dann ist der Tod längst überflüssig.« Valorie sieht nicht so aus, wie man sich einen Herrscher des Nachlebens vorstellt... das liegt vor allem an der...