6 | Der erste Hinweis

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»Bist du verrückt geworden?«, keuchte Darrel, als er hinter Hannah den steilen Weg am Berg entlang hinaufstieg. An der rechten Seite zogen viele Häuser und Geschäfte vorbei, ihre Fassaden von der salzigen Meeresluft gezeichnet. Das Straßenpflaster war uneben und von vielen Jahren des Gebrauchs gezeichnet, während das stete Rauschen der Wellen im Hintergrund zu hören war.

Auf dem Weg nach oben begegneten ihnen zahlreiche Menschen, die meisten von ihnen eher ärmlich gekleidet, ihre Gesichter von der harten Arbeit und den Strapazen des Lebens gezeichnet. Doch zwischen ihnen mischten sich auch einige feine Leute, gekleidet in edle Stoffe und mit einem Stolz, der ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft widerspiegelte. Je höher sie kamen, desto mehr veränderte sich die Mischung, bis sie sich schließlich optisch perfekt einpassten.

»Was hast du dir dabei gedacht?« schimpfte Darrel, während er Hannah widerwillig folgte. »Er wird die Wachen rufen.«
»Aye, natürlich wird er das«, erwiderte Hannah gelassen. »Aber bis sie uns finden, sind wir längst wieder auf See. Außerdem hätten wir uns das schicke Gewand, das du jetzt trägst, niemals leisten können. Also hatte ich keine andere Wahl und du auch nicht.«

Ein amüsiertes Lächeln huschte über Darrels Lippen. »Ich hätte zu gern das Gesicht des Verkäufers gesehen, als er bemerkte, dass wir einfach abgehauen sind«, gestand er.
»Das hätte ich auch gerne gesehen«, entgegnete Hannah mit einem verschmitzten Grinsen, und ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment schienen sie auf derselben Wellenlänge zu sein, in ihrem verbrecherischen Tun vereint. Doch sie waren immer noch Rivalen im Wettkampf um den Schatz von Gerald dem Grimmigen.

»Und wohin müssen wir jetzt genau?«, lenkte Hannah das Gespräch in eine neue Richtung. Darrel warf einen prüfenden Blick um sich, denn in dieser Gegend kannte er sich nicht aus. Zum Glück hatte Ronan ihm eine detaillierte Beschreibung gegeben.

»Schau mal, hier auf der Karte ist ein Symbol, das Ronan gleich bekannt vorkam«, begann Darrel, während er ein Stück seiner Karte aus der kleinen Umhängetasche an seiner Seite zog. Glücklicherweise hatte er sie bereits wieder umgehängt, als er aus der Kabine getreten war, sonst hätten sie jetzt ein Problem. Doch anstatt Hannah die Kurzsichtigkeit ihrer Aktion vorzuwerfen, konzentrierte er sich auf das Symbol, das in der oberen Ecke prangte.

»Hier« sagte er und hielt kurz mit Hannah im Schatten eines Hauses an. Sie waren bereits zu zwei Dritteln um den Berg herumgelaufen und konnten von hier aus den imposanten Eingang der Bucht zwischen den großen Felsen sehen. Dahinter lag, etwas stürmischer als in der geschützten Bucht, das Tosen des weiten Meeres.

»Dieser Kreis mit den vier sich gegenüberliegenden Strichen und dem Kreuz in der Mitte?«, fragte Hannah, während sie das Blatt drehte und wendete, um zu erkennen, wonach genau sie Ausschau hielten.
»Vielleicht ist es ein Teller oder etwas Ähnliches«, überlegte Darrel, seine Stirn leicht gerunzelt.

»Oh ja, ein goldener Teller, auf dem wir dann unsere Kaviarhäppchen und Knoblauchmuscheln genießen können«, spottete Hannah mit einem schelmischen Grinsen.

»Vielleicht stellt es auch eine Sonne oder einen Stern dar, der uns in eine bestimmte Richtung führt«, überlegte er weiter, einen Hauch von Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.

»Sonne,« lachte Hannah, »du bist mir ein cleverer Seemann. Jeder weiß doch, dass die Sonne jeden Tag denselben Weg an der Kuppel über Domhain nimmt. Dafür bräuchten wir keinen Schatz, um uns die Richtung vorzugeben.«

»Vielleicht ist es auch ein Amulett, das weitere Hinweise oder einen Schlüssel verbirgt?«, sagte Darrel nun etwas grimmiger, doch ein spielerischer Glanz lag noch in seinen Augen.

»Lass uns einfach zu diesem Edelmann gehen, von dem du berichtet hast, und vor Ort nachsehen, ob wir etwas Rundes mit Strichen und einem Kreuz in der Mitte finden«, schlug Hannah vor. Sie wollte die Karte gerade einstecken, als Darrel seine Hand danach ausstreckte. »Darf ich bitten, meine Liebe?«

Hannah schaute etwas enttäuscht drein, gab die Karte aber ohne weiteren Kommentar zurück. Dann hakte sie sich erneut bei ihm unter, und sie begannen, zwei weitere Windungen des Berges zu erklimmen. Je weiter sie emporstiegen, umso schöner und größer wurden die Häuser und Geschäfte, die sich an den Berg klammerten. Schließlich blieben sie vor einer stattlichen Villa stehen.

»Hier muss es sein«, meinte Darrel und deutete auf ein Familienwappen, das Ronan auf die Schatzkarte gezeichnet hatte.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Hannah mit einem Hauch von Spannung in der Stimme.
»Ronan gab mir den Auftrag, ein Geschäft abzuwickeln, das uns hoffentlich die Möglichkeit gibt, uns auch ein paar andere Schätze des feinen Herren anzusehen«, antwortete Darrel.

»Klingt nach einem Plan. Du gehst vor!«, entschied die Kapitänin und faltete bedächtig die Hände vor ihrem Schoß.
»Falls sie uns nicht reinlassen wollen«, bemerkte Darrel mit einem schelmischen Grinsen, »zieh einfach die Träger deines Kleides ein wenig nach unten.« Hannah rollte mit den Augen und entgegnete: »War ja klar, dass du keine guten Argumente vorzubringen hast.«

Mit einem entschlossenen Blick hob sie die Hand und betätigte den großen Türklopfer. Das dumpfe Geräusch hallte durch die dahinterliegenden Räume, während die Schatzjäger gespannt auf Einlass warteten.

 Das dumpfe Geräusch hallte durch die dahinterliegenden Räume, während die Schatzjäger gespannt auf Einlass warteten

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Diyanne fühlte sich sichtlich wohl, als Ronan ihr seine Hand reichte und ihr zuvorkommend auf den Steg half. Sein Lächeln, das sich teilweise unter seinem Bart verbarg, strahlte dieselbe Zufriedenheit aus wie ihr eigenes. Als er ihr anbot, ihre Besorgungen auf das Schiff zu bringen, nahm sie das Angebot dankbar an. Mit einer mühelosen Leichtigkeit trug Ronan die fünf vollen Holzkisten, beladen mit Proviant und anderen Waren des täglichen Bedarfs, auf das Schiff. Dort stellte er die Kisten ab und überließ es den Matrosen, die Unterbringung im Schiffsraum vorzunehmen. Zufrieden lächelte Diyanne, als der große Mann sich verabschieden wollte.

»Vielen Dank, Ronan!«, sagte sie warmherzig. »Ich bin wirklich froh, dass ich heute nicht allein auf die Insel musste. Deine Hilfe war wirklich willkommen!« Aufrichtig sah sie den Mann an, der sie fast um zwei Köpfe überragte. Zu ihrer Überraschung kratzte er sich verlegen am Kinn.

»Keine Ursache Yan, das war doch selbstverständlich«, nuschelte er in seinen Bart. »Ich habe nicht gewollt, dass du noch einmal hierherkommen musst. Doch mit etwas Glück können wir bald schon wieder die Segel setzen.« Diyanne nickte, dann sah sie Ronan ernst an.

»Was hältst du von dieser Fehde zwischen unseren Kapitänen? Kannst du Darrel nicht zur Vernunft bringen? Wir wollen doch gemeinsam an den Schatz kommen, oder nicht?« Noch während sie dies fragte, fiel ihr Ronans Äußerung gegenüber Darrel ein. Er wollte den Schatz durch zwei teilen, um sich zur Ruhe zu setzen. Und um eine Frau zu heiraten. Hatte er dafür schon eine bestimmte Person im Sinn? Vielleicht ein Mädchen aus seinem Heimatdorf?

»Darrel ist ein Sturkopf, genau wie Hannah«, unterbrach er ihre Gedanken. »Keiner von uns wird die beiden wohl je dazu bringen können, nicht ihren eigenen Kopf durchsetzen zu wollen. Aber sollte es zwischen ihnen hart auf hart kommen und du dich unwohl fühlen«, sagte er und nahm ihre zarte Hand in seine großen Pranken, »dann sei dir gewiss, dass ich bei dir sein werde, um dich zu beschützen. Ich werde auf dich aufpassen und mich um dich kümmern. Denn kein Schatz der Welt ist es wert, dass dir etwas geschieht!«

Diyanne spürte, wie sich ihre Augen weiteten bei Ronans Ansprache. Ihr Herz tat einen kleinen Hopser, als ihr bewusst wurde, dass Ronan immer für sie da sein würde, selbst wenn er dafür auf den Schatz verzichten oder Darrel in den Rücken fallen müsste. Doch was hatte es mit dem Versprechen für Darrel auf sich? Würde er es für sie brechen, auch wenn er damit seine Träume aufgab? War sie ihm tatsächlich so wichtig? Oder war es nur das Mitleid mit dem armen Wesen, dass er vor vielen Jahren beim Spielen gewonnen hatte?

Das gekaperte HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt