Kapitel 1

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Keuchend versteckte Elienor sich hinter einem Baum und holte tief Luft. Die Rinde drückte sich unangenehm in ihr Rückgrat, doch der vertraute Geruch von frischem Harz und die würzige Note der vereinzelten Kiefern beruhigte ihren Puls. Während ihre Hand wachsam über ihren Gürtel wanderte, an dem sich ihre Wurfmesser befanden, stachen kleine Zweige der Tanne in ihre Seiten und zerkratzten ihre nackten Arme. Angestrengt lauschte sie, ob ihr Gegner ein Geräusch von sich gab, welches seinen Standort verraten würde – doch es war nichts zu hören.

Der Wald um sie herum war unheimlich still. Kein Vogel zwitscherte. Die Insekten hatten aufgehört zu summen. Sogar der Wind hatte aufgehört zu wispern. Wie erstarrt stand Elienor am Baum, nur ihre Finger tänzelten über die Ledergriffe der schmalen Messer, ihre Sinne geschärft. Gänsehaut kroch über ihre Arme. Ihr Atmen kam ihr so laut vor wie eine Säge im trockenen Unterholz.

Vorsichtig wagte sie einen Blick hinter der Linde hervor. Die Farn- und Ginsterbüsche standen dicht beieinander und boten den perfekten Schutz für ihren Angreifer. Hätte sie ihren Scale nutzen dürfen, wäre ihr Gegner ihr längst zum Opfer gefallen. Plötzlich zuckte ein Blatt im Farn und ein Schatten huschte vorbei. Schnell zückte Elly ein Messer und warf es mit einer raschen Bewegung nach vorne. Die Klinge bohrte sich in die Rinde eines Baumes und blieb zitternd stecken. Suchend blickte sich Elienor um, doch niemand war zu sehen.

Im nächsten Moment wurde sie von der Seite umgestoßen und landete auf dem Boden. Die Gestalt drehte sie auf den Rücken und presste ihr eine Klinge an die Kehle, ehe sie auch nur ein zweites ihrer Messer ziehen konnte.

»UND STOPP!«

Der Junge ließ von ihr ab. Er strich sich ein paar seiner hellen Strähnen aus der Stirn und steckte sie zurück unter das schwarze Haarband. Grinsend hielt er ihr eine Hand hin, die sie, ohne zu zögern, ergriff, woraufhin er sie auf die Füße zog.

Sie hatten Training.

Kampftraining an der anspruchsvollsten Schule in ganz Phandalin.

Schon in der Vorschule hatte Elienor Bücher über fiktive Heldengeschichten verschlungen, während ihr Kindergartenfreund Kalem daneben saß und Bilder malte. Bei Spaziergängen hatten sie beide in Tagträumereien darüber fantasiert, wie sie über das Hügelland streifen würden, die Waffen in den Händen und den Blick auf das saftig grüne Gras gerichtet. Sie waren durch den Ancoswald gestreift, hatten die Farm vor imaginären Angreifern beschützt und waren im Dunkeln, von tiefen Schatten begleitet, nach Hause gegangen.

Zusammen mit Kalem besuchte sie nun schon seit sechs Jahren die Kampfhochschule in Phandalin und verfolgte ihren großen Traum, einmal der Eliteeinheit beizutreten. Jedes Mal, wenn sie in der Schule unter dem wabenförmigen Dach stand, wurde ihr bewusst, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn bei dem Anblick der Waffenkammer, den Trainingsräumen und dem Gefühl ihrer Wurfmesser in der Hand kribbelten ihre Finger vor Aufregung und ihr Herz schlug höher.

»Du hättest mich beinahe getroffen, Elly. Das war echt knapp«, sagte Kalem und ließ seine Klinge einfahren, ehe er sie an seinen Gürtel zurücksteckte.

Es war eine der Standardwaffen, wie sie in ganz Phandalin zu finden waren. Die Klingen ließen sich in den Griff einfahren und wenn man sie zückte, schoss das glänzende Silber fast automatisch aus dem Heft hervor. Es war, als wüssten die Waffen, wann sie gebraucht wurden.

»Zum Glück konntest du so schnell ausweichen«, entgegnete Elienor grinsend und ging auf den Baum zu, um ihr Messer zu holen. Nachdem sie die Klinge aus der Rinde gezogen hatte, verschloss sich die Kerbe und der Baum sah wieder unversehrt aus.

»Du weißt, dass ich immer der Schnellere von uns beiden sein werde«, bemerkte Kalem und warf gespielt arrogant seine imaginären langen Haare nach hinten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 02 ⏰

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Schatten der Nacht [WattysWinner 2018]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt