- Kapitel 74 -

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Lukes Sicht

Am Ziel, der Rettungsdienst Einfahrt, angekommen, stellte ich fest, dass in diesem Moment kein Rettungswagen dort stand.
Das erleichterte mich für den Moment, aber ich wusste, dass jederzeit eines dieser Fahrzeuge hier auftauchen konnte. Und damit auch Mom.

Mein Blick schweifte umher und schaute in Richtung der Glastür.

»Wenn das hier die Rettungswagen Einfahrt ist, dann liegt hinter dieser Tür sicher die Notaufnahme. Die, in die ich nach meinem Unfall auch eingeliefert worden war«, kam mir der Gedanke in den Kopf und ich schaute zu meinem rechten Arm.

Bei diesem zog ich den Ärmel meiner Jacke und dem des Hoodies hoch und schaute mir die Narbe an. Mein letztes Andenken an das ganze Drama.

»Woran denkst du gerade?«, unterbrach Damien mich zum wiederholten Mal beim Nachdenken.
»Über meinen Unfall und die OP«, gab ich ihm die kurze Antwort, zog die Ärmel wieder runter und schaute zu ihm.
»Es ist ein komisches Gefühl hier zu stehen und zu wissen, dass man vor ein paar Wochen genau hier war und durch diese Tür in die dahinterliegende Notaufnahme gebracht wurde. Dann die OP. Die Panik davor und die Tatsache, das jetzt zwar der Gips ab ist, aber das Metall noch in meinem Arm ist und es eine weitere OP braucht, um das wieder zu entfernen«, fuhr ich fort.

»Darauf arbeiten wir ja hin. Langsam aber stetig. Bis zu dieser zweiten Operation ist ja noch etwas Zeit«, sagte Damien und strich sich seine vom Regen angefeuchteten Haare zurecht.
Mein Blick hatte ich wieder in Richtung Glastür gewandt.
»Das Ding ist … Ich …«, wollte ich anfangen zu reden, aber ich fand einfach nicht die richtigen Worte für das, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging.

Die Angst vor der zweiten Operation, die Erinnerung an die Operation, wegen der die Angst überhaupt erst ein Teil meines Lebens geworden war und die Frage, wieso ich derjenige war, der jetzt mit den Folgen davon leben muss und versuchen muss sich da aufwändig wieder rauszukämpfen, obwohl ich gar nichts dafür konnte, wie es passiert ist.

Ich ballte meine Hände leicht zu Fäusten.

»Wieso muss ich jetzt Fehler ausbügeln, die andere gemacht haben?«, sprach ich die Frage laut aus.
»Redest du jetzt davon, dass du dich fragst, wieso du jetzt gegen deine Angst ankämpfen musst, obwohl du nicht derjenige warst, der für den Auslöser verantwortlich ist?«, stellte mir der Psychiater eine Gegenfrage. Bestätigend nickte ich.

»Das ist leider das Problem an psychischen Erkrankungen. Oftmals kommen die Auslöser von außen und bringen die Psyche ordentlich durcheinander. Du kannst dir dazu folgende Metapher vorstellen, die hat mir Mal ein Patient von mir erzählt und bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Und zwar ist in dieser Metapher unser Kopf ein großes Haus mit vielen verschiedenen Räumen. Natürlich besitzt dieses Haus auch Möbel und Gegenstände. Manche davon sind gebunden an bestimmte Erinnerungen. Auch Räume können verschiedene Erinnerungen beinhalten. Jetzt ist es so, dass man im Leben immer wieder anderen Menschen begegnet und sie in dieses metaphorische Haus einlädt. Manchen zeigt man mehr von diesem Haus, anderen bleiben ganze Räume unzugänglich. Jetzt kann es sein, dass man einen Menschen trifft, der einem nicht gut tut und in diesem Haus im Laufe einiges durcheinander bringt oder sogar zerstört. Man konnte jetzt denken, dass man doch einfach alles wieder so herstellen kann, wie es war, doch so einfach ist das nicht. Je nachdem wie arg das Chaos ist, was angerichtet worden ist, so einfach oder schwer ist es auch wieder alles so herzurichten, wie es mal war. In manchen Fällen ist es gar nicht möglich, weil manche Gegenstände, Möbel oder Teile des metaphorischen Hauses so stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass man immer sehen oder wissen wird, was damit passiert ist. Verstehst du, worauf ich hinaus möchte?«, beendete er seinen Monolog.

Ich nickte. Im ersten Moment klang es ziemlich kompliziert, aber wenn man länger darüber nachdenkt, ist die Metapher mit diesem inneren Haus gar nicht schlecht.

»In deinem Fall hat wohl auch jemand etwas in deinem inneren Haus durcheinandergebracht und du versuchst jetzt eine Lösung zu finden, wie du den „Schaden“ am besten behebst, dass er nicht mehr stört. Und wie es eben so ist, kann man manche Schäden nicht selbst beheben und ist auf Hilfe von außen angewiesen«, wandte er diese Metapher jetzt auf mich an. Zumindest mit den Infos, die er über den Vorfall hatte, was nicht viele waren.

»Ich finde die Metapher echt gut. Verbildlicht das Problem ganz gut«, sagte ich ihm meine Meinung dazu.
»Deswegen habe ich sie mir auch gemerkt.« Wieder nickte ich.

»Ich schlage vor, wir kommen für heute zum Ende. Du weißt ja, wann wir uns am Samstag wieder sehen, richtig?«, wollte er von mir wissen, bevor er unsere „Sitzung“ für diesen Tag beendete.
»Neun Uhr vor der Wache«, gab ich ihm die Antwort, die er hören wollte. »Sehr gut. Dann sehen wir uns am Samstag wieder. Komm gut nach Hause«, leitete er die Verabschiedung ein, die ich mit einem
»Bis Samstag«, erwiderte, wonach sich unsere Wege trennten.

Mit übergezogener Kapuze lief ich durch den Regen in Richtung Bushaltestelle. Laut Uhrzeit sollte der nächste Bus nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.

Ich war froh, als dieser angefahren kam, ich einsteigen konnte und im Trockenen war.
Na ja. Zumindest für knapp mehr als zehn Minuten, dann musste ich noch ein paar Meter zum Haus laufen.

Im Haus angekommen, zog ich zuallererst meine Schuhe aus und würde die Jacke los, dessen Kapuze Klatschnass war.

»Gleich duschen gehen klingt nach einer guten Idee, aber erst sollte ich zu Akira und ihr Bescheid geben, dass ich wieder da bin«, ging es mir durch den Kopf und ich lief die Treppen nach oben.

Vor Akiras Zimmertür blieb ich stehen und lauschte erst für einen Moment, bevor ich die Klinke runterdrückte, die Tür ein Stück öffnete und in ihr Zimmer lugte.

Da Akira nicht auf ihrem Bett saß, schaute ich in ihre Leseecke, wo ich sie auch entdeckte.

Um sie nicht zu erschrecken, klopfte ich an die Tür und versuchte so ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Das klappte auch, denn sie schaute über den Rand des Buches in ihren Händen in meine Richtung.
»Oh, du bist wieder da. Wie war's?«, fragte sie direkt nach und legte ihr Buch beiseite. Dann begann ich ihr von der Sitzung zu erzählen.

WKM - Angst vor ihnen Where stories live. Discover now