Kapitel 9

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Meine Lider fühlten sich unglaublich schwer an, als ich wach wurde und blinzelte.

Eigentlich hatte ich strahlendes Sonnenlicht erwartet, aber mich empfing nur die Schwärze. Dunkelheit. Was ist hier los? Verwirrt griff ich nach dem Gurtwickler des Rolladens, um zu sehen, ob ich ihn gestern doch noch runter gemacht hatte, aber ich spürte keinen.

Also stand ich auf und lief zum Lichtschalter, der war aber auch nicht da, wo er sein sollte.

Was zum Teufel ging hier ab? Ich tastete fast alle Wände ab, spürte sogar irgendeine Flüssigkeit, bis ich ihn endlich fand. Langsam schaltete ich das Licht an, schloss aber für einen Moment meine Augen, weil ich sie nicht öffnen wollte. Ich nahm einen unangenehmen Geruch wahr, der die Luft ziemlich stickig werden ließ, und spürte, dass etwas anders war.

Okay, in 3 Sekunden öffnest du die Augen. Ich atmete tief ein.

3 ... 2 ... 1 ...

Schließlich öffnete ich sie, atmete tief aus. Vor mir war eine weiße Wand, keine grüne wie in dem Zimmer des Colleges. Oh Gott, wie war ich hier her gekommen? Hatte ich geschlafwandelt? In Zeitlupe drehte ich mich um, um meine Umgebung zu betrachten.

Und dann blieb mein Herz für ein paar Sekunden stehen.

Ach du ... Ich stand im Wohnzimmer meines eigentlichen Zuhauses. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, meine Eltern hätten mich mit einem breiten Lächeln willkommen geheißen, aber das war nicht der Fall. Nein, das war er nicht. Meine Blutäderchen gefroren. Fast hätte ich das Zimmer nicht wiedererkannt, doch die wenigen Familienbilder, die provokant auf dem Boden verteilt waren, zeigten mir, dass ich ganz sicher Zuhause war.

Die Wände waren mit Blut verschmiert, das war wahrscheinlich die Flüssigkeit, die ich gespürt hatte, die Kissen waren aufgeschlitzt, der Glastisch war zersplittert und ... Oh Gott.

Plötzlich drang ein merkwürdiger Laut aus meiner Kehle, der sich zu einem Schluchzen und Schreien entpuppte. Oh Gott, nein. Nein, nein, nein!

Mom und Dad lagen auf den Boden, die Splitter des Glastisches in ihren Wunden verteilt.

Ihre Augen waren offen, doch ihnen fehlte das Glänzen, das sie immer hatten, wenn sie mich angelächelt hatten. Dads Augen hatten die gleiche Farbe wie meine.

Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, in der Hoffnung, dass mich jemand hören würde.

Was zur Hölle ist hier passiert? WER HAT IHNEN DAS ANGETAN?

Aus Trauer wurde Wut. Ich werde der Person genau das Gleiche antun. Das werde ich garantiert.

Mit energischen Schritten ging ich auf die beiden zu, bis ich auf eine raue Stimme aufmerksam wurde.

„Warum schreist du denn so? Mensch Amy, was sollen die Nachbarn dabei denken?"

Mein Gehirn setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Die Stimme war mir leider Gottes viel zu vertraut, weshalb ich mich umdrehte und direkt in die schwarzen Augen sah, die ich sofort erkannte. Sean.

Ich schluckte schwer, um nicht wieder schreien zu müssen. Marleen kniete neben ihm, er hielt sie an den Haaren fest. Ihr klebte ein Klebebandstreifen auf dem Mund, ihr T-Shirt war zerrissen und in ihrem Bauch prangte eine Wunde, die mit einem Messer zugeführt wurde.

Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, doch ich musste mich zusammenreißen, sonst würde er nicht nur mich, sondern auch noch meine beste Freundin töten. Und das vor meinen eigenen Augen. Sie winselte, und ich musste mich beherrschen, ihm nicht das Messer, das er in seiner rechten Hand gelassen drehte, abzunehmen und es ihm selbst in seine schwarzen Augen zu rammen, damit ich sie nie wieder sehen musste.

„Warum hast du das getan?", fragte ich leise. Viel zu leise.

„Ach, ich habe mich nur bei dir gerächt. Halb so schlimm."

Halb so schlimm? DU HAST MEINE FAMILIE UMGEBRACHT!

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, meine Knöchel wurden schon weiß. Rasch merkte ich, dass das Blut auch aus meinen Händen quoll.

„Was machen wir jetzt mit deiner kleinen Freundin, Amy? Soll ich das Gleiche wie bei deinen Eltern machen?", fragte er, als würde er mich nach einem Eis fragen.

Ich blieb still. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, was er dann als Mittel nahm, um sie umzubringen. Marleen winselte und sah mich mit ihren großen ... Moment. Sie waren gar nicht hell. Sie waren schwarz. Schwarz. Schwarz. Wie ...?

„SAG ES MIR!", brüllte er, sodass ich mir die Ohren zuhielt. Ich wollte etwas sagen, aber meine Tränen erstickten meine Stimme.

„Nein, du sollst nicht das Gleiche machen", winselte ich, fing mich jedoch schnell wieder. „Nein."

„Na schön, dann mach ich es eben noch schlimmer", sagte er, und schon sah ich, wie er das Küchenmesser in Marleens Augen rammte. NEIN!

„NEIN!", schrie ich, aber mein Schrei wurde von Marleens übertönt. Ich rannte auf ihn zu, wollte ihn von ihr wegreißen, aber ein paar Zentimeter davor wurde ich zurückgestoßen.

Verdammt, was war das? Ich sah keine Mauer oder dergleichen, auch Sean hatte mich nicht zurückgestoßen. Er rammte das Messer in jede Stelle ihres Körpers, quälte sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Und ich stand ein paar Zentimeter davor, boxte, schlug, trat, schrie, brüllte gegen die unsichtbare Wand, die mir den Weg zu dem Leben meiner besten Freundin versperrte.

„HÖR AUF! HÖR AUF!" Es war unerträglich, so nah zu sein und ihr nicht helfen zu können.

„HÖR AUF!"

Ich bekam keine Luft mehr, meine Lungen fühlten sich an wie Blei. Ich konnte nicht mehr atmen. Beruhige dich!

Auf einmal merkte ich, warum ich keine Luft mehr bekam: Die Höllenausbrut stand hinter mir und erwürgte mich fast. Gerade als ich dachte, dass ich gleich sterben würde, ließ er los und zog mich an den Haaren nach draußen auf die Terrasse.

Die kühle Luft ließ mich wieder atmen, doch als ich sah, wo war ich war, stockte mir erneut der Atem. Ich war nicht auf der Terrasse, wir waren auf einer Brücke.

Das konnte nur ein Traum sein. Gleich würde ich aufwachen und Marleen umarmen. Und Mom und Dad. Es ist alles nur ein Albtraum. Nur ein Traum ...

Ich wehrte mich, schlug ihm ins Gesicht und kratzte schon fast seine Augen aus. Aber die Schwärze seiner Augen verschwand immer noch nicht. Sie verschlang mich.

Während ich mir abermals die Seele aus dem Leib schrie, hievte er mich über das Geländer.

Oh Gott. Mein Herz fing an zu rasen und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen.

„Zu schade, dass du Höhenangst hast. Ich hoffe du kommst in die Hölle, dreckige Schlampe", raunte er mir in mein Ohr und schwenkte mich gelassen an den Haaren hin und her, sodass mein Körper immer und immer wieder schmerzhaft gegen das Geländer knallte.

„Du bist einfach abgehauen, einfach so! Hast uns alle im Stich gelassen! Dass die Frau tot ist, ist deine schuld! Du hast sie getötet!"

Ich schaute auf den Fluss herab, konnte allerdings nichts erkennen. Er war schwarz, genau wie der Himmel, genau wie Seans Augen. Genau wie sein Charakter. Wie sein Herz ...

Wie das Blut, das an den Wänden verteilt war ... Und wie mein Charakter, der die Frau sterben ließ.

Ich wollte immer friedlich sterben, aber das war alles andere als ein friedlicher Tod.

Und dann hängte er eine Stahlkette an mich und ließ mich los.

Mein letzter Gedanke, mein letzter Schrei, war der Frau gewidmet, die ich getötet hatte.

Dann prallte ich in den Tod.

GlücksscherbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt