Ich klammerte mich an Nick, obwohl ich mich dafür hasste, als wir in den kalten Keller des Schlosses hinuntergeführt wurden.

Von der neuen Königin Neruras konnte ich kaum etwas sehen, da sie von meinen Eltern verdeckt wurde, die vor Nick und mir liefen. Auch in dem kurzen Moment, als mich die neue Königin von Nerura begrüsst hatte, hatte ich nicht viel von ihr gesehen. Mir war gesagt worden, dass sie eine schöne Frau mit blonden Haaren und dem Gesicht eines Engels war, aber wegen des schwarzen Schleiers vor meinem Gesicht hatte ich das nicht bestätigen können.

Die neue Königin, selbst wenn es noch nicht ganz offiziell war, dass sie Nerura regieren würde, hatte auch Nick begrüsst, ohne dass ich eine Veränderung in ihren Gefühlen gespürt hatte. Auch als ich seinen Namen gesagt hatte und sie begriffen hatte, wer da vor ihr stand, hatte ich nichts gespürt, was uns gefährlich werden könnte.

Leider war Nicks Idee, ihn als meinen Partner vorzustellen, eine wirklich gute Idee. Wahrscheinlich besser als all die Dinge, die mir eingefallen wären.

Die neue Königin öffnete eine Tür aus Eisen vor uns. Sie quietschte leise.

Meine Eltern folgten der neuen Königin in den kalten Raum hinein. Nick und ich auch, obwohl sich eine weitere Panikattacke anbahnte. Mein ganzer Körper verkrampfte sich, als ich versuchte, mich an die Worte meines Vaters zu erinnern. Ein- und wieder ausatmen. Ein und aus.

„Stella?", fragte Nick.

„Alles gut", flüsterte ich leise.

Doch nichts war gut.

Ich versuchte krampfhaft zu atmen. Dann sah ich den Tisch, auf dem vier zerschlagenen Körper lagen. Ich hatte die Königsfamilie Neruras nur einmal gesehen, aber sie waren es. Alle vier. Tot.

Ich war mir sicher, dass Nicks Hand nicht mehr durchblutet wurde, so fest klammerte ich mich an ihn, während ich selbst durch den Vorhang vor meinem Gesicht die zerschlagenen Körper musterte. So sah Lu auch aus. Solche Schmerzen hatte Lu auch gelitten, vielleicht sogar länger als seine vorübergehende Familie, wenn er den Aufprall überlebt und sich noch bewegt hatte.

Mein Herz schlug immer schneller. Ich atmete kaum noch.

„Es tut mir schrecklich leid, euch das hier zeigen zu müssen. Ich hätte mir so sehr gewünscht, euch alle auf einem Fest wiederzusehen. Nicht so."

Ich sah auf die Braut meines Bruders hinab. Ich sah in ihr Gesicht, das ich fast nicht wiedererkannte. Ich wünschte mir, jemand würde ihr einen Schleier vors Gesicht halten, so wie damals auf der Hochzeit. Die Gliedmassen des Königspaares waren völlig entstellt. Die kleine Schwester der Braut meines Bruders wagte ich gar nicht anzusehen.

„Wenn wir irgendwie helfen können, sagt es uns", sagte meine Mutter.

Die neue Königin Neruras sah es nicht, aber ich konnte deutlich erkennen, dass meine Mutter von meinem Vater gestützt wurde. Der betrachtete die vier Toten. Der Anblick verstörte ihn nicht so sehr wie meine Mutter oder mich.

„Danke für das Angebot und danke, dass ihr hierhergekommen seid, um uns in dieser schweren Zeit zu unterstützen."

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Arela einmal gegen Nerura Krieg geführt hatte. Ein Krieg, in dem meine Eltern, aber auch die neue Königin von Nerura, gegeneinander gekämpft hatten.

„Wo ist Luno?"

Sofort drehten sich alle zu Nick um, doch niemand antwortete ihm. Ich war mir nicht sicher, ob ich es mir nur einbildete, weil meine Sicht durch den Schleier eingeschränkt war oder ob Nick wirklich blass war. Vielleicht fing er nun endlich an, die traurige Realität zu akzeptieren.

„Wo ist er?", wiederholte Nick. Seine Stimme war nun von Zorn untermalt.

„Nick", sagte ich. „Bitte nicht."

Ich konnte seine Wut spüren, aber auch Angst und Hoffnung.

Die neue Königin Neruras räusperte sich. „Sein Körper wurde noch nicht gefunden."

„Immer noch nicht?" Ich hörte den Schmerz aus der Stimme meiner Mutter heraus. „Er kann doch nicht mehr weit gekommen sein."

Es zerriss mir das Herz, wie sie über Lus Tod sprach.

„Wir haben die Felsspalte abgesucht, in die die Königsfamilie gestürzt ist, aber leider haben wir ihn nicht gefunden. Die Spuren, die wir gefunden haben, deuten aber daraufhin, dass Prinz Luno tot ist." Ich hörte das Mitgefühl aus den Worten der neuen Königin heraus. „Wir vermuten, dass er vielleicht von einem Wolf verschleppt wurde."

Ein erschrockener Laut hallte durch den Raum. Die Vorstellung, dass Lu nach einem Sturz gestorben war, war schon schlimm genug. Mir auch noch vorstellen zu müssen, dass er vielleicht von einem Wolf gefressen wurde, machte das alles nur noch schlimmer.

Nun drückte Nick meine Hand so fest zusammen, dass sie langsam taub wurde. Ich konnte all die Worte, Fragen und Vorwürfe spüren, die ihm auf der Zunge lagen. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft. Er glaubte der neuen Königin von Nerura kein Wort. Doch selbst wenn ich spüren konnte, wie gerne er etwas gesagt hätte, hielt er sich zurück. Immerhin hatte er genug Anstand, in den wirklich ernsten Momenten den Mund zu halten.

Er wusste, wie weit er mit meinen Eltern gehen konnte, doch bei mir kannte er keine Grenze. Nick respektierte meine Eltern, mich auch, nur nicht genug, um mich in Ruhe zu lassen. Er hielt noch immer meine Hand. Gleichzeitig rammte er mir seinen Elenbogen in die Rippen.

Mir war sofort klar, dass er mir versuchte, eine stumme Botschaft zu schicken. Er wusste, dass nur ich die Bitte aussprechen konnte, die er in die Welt hinausschreien wollte.

„Können wir den Unfallort besuchen?"

Nick entspannte sich neben mir. Blut floss wieder durch meine Finger. Alle drehten sich zu mir um, doch ich konnte nur die Augen meines Vaters sehen. Ich konzentrierte mich auf ihn, als ich meine Frage wiederholte.

„Dürfen wir den Ort besuchen, an dem es passiert ist?"

„Wenn es dir bei deiner Trauer hilft, Kind, kann ich dir gerne eine Kutsche organisieren, die dich dahinbringt", antwortet die neue Königin schliesslich.

Auf keinen Fall wollte ich mit einer Kutsche zum Unfallort reisen. Verzweifelt sah ich meinen Vater wieder an, der sofort begriff.

„Lieber würden wir fliegen. Wir bräuchten bloss eine Karte."

Ich sah, wie die neue Königin Neruras hinter ihrem Schleier nickte.

Meine Mutter sah mich an. Ich konnte ihre Augen durch den Schleier nicht sehen, aber spüren. „Ich bleibe hier und kümmre mich um alles. Ihr drei besucht den Ort, an dem es passiert ist."

Die Worte meiner Mutter waren ein Befehl, dem nur mein Vater widersprechen konnte. Doch der nickte nur.

„Ich möchte den Ort nicht sehen." Die Stimme meiner Mutter brach. Sie wandte sich an meinen Vater. „Wenn es Stella hilft, dann bring sie an den Ort, an dem es passiert ist."

Mein Vater nickte. Er brauchte meine Mutter nicht zu fragen, ob sie allein klar kommen würde. Wir alle wussten, dass sie ihre Arbeit machte, auch wenn es ihr sehr schlecht ging.

Die neue Königin Neruras führte uns hinauf in einen wunderschönen Salon, wo ihr ein Diener eine Karte brachte, auf der sie den Ort einzeichnete, wo Lu gestorben war. Dann wurden mein Vater, Nick und ich neu eingekleidet.

In eine warme lange Hose, einen Pullover und eine Jacke gekleidet, lehnten wir das Angebot einer Kutsche dankbar ab. Dann verabschiedeten wir uns kurz von meiner Mutter, bevor wir wieder hoch in die Luft stiegen.

Das Reich der ErbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt