Luciel war diesen Morgen mit einem einzigen Gefühl in der Brust erwacht: Wut.
Geboren aus den Erinnerungen vergangener Nacht. Seine Hände schrien nach Blut, dürsteten nach einem Mord. Am Frühstückstisch entsprang ein Plan seinem Hinterkopf. Er musste den König konfrontieren, ihn zur Wahrheit bewegen. Seine Verbrechen an der Menschheit durften nicht unbestraft bleiben!
Zwischen Eiern und Brot, Tee und Milch brachen die Worte aus ihm heraus.
„Ich muss meinen Vater töten", beschloss er, "Durch mein Schwert wird die Rache seiner Opfer erfolgen."
Vina ließ den Honig sinken, tauschte einen Blick mit Hapi aus. Der Gott rührte einen kleinen Silberlöffel durch seine Porzellantasse. Wieder und wieder klirrten die Materialien aufeinander. Luciels Nerven fransten langsam aus.
„Es ist nicht seine Zeit", entgegnete er und nippte endlich am Tee.
Wie leichtfertig er diese Worte fallen ließ und Luciels Hoffnungen zum Zerspringen brachte! Ein Scherbenhaufen offenbarte sich vor ihm, glitzernd in der Morgensonne.
„Dann mach es zu seiner Zeit", keifte der Prinz.
„Die Welt hat Regeln, Luciel."
Nicht heute. Nicht für ihn.
Beinahe vernahm er das Knirschen seiner zerstörten Hoffnungen und wie Hapi auf ihnen herumstolzierte. Vielleicht war es auch nur das Geräusch von Vinas Messer, das gegen das gekochte Ei schlug.
„Ich kann dir nicht helfen. Nicht dabei."
Niemand wollte ihm helfen! Nicht Dea, nicht Abryss, nicht Hapi und nicht einmal seine Brüder. Den König zum Abdanken zu zwingen war nicht der hervorragende Plan, den Luciel sich gewünscht hatte auszudenken, sondern ein Kompromiss. Aber Recht sollte nicht gebogen werden, um allen Parteien zu genügen! Selbst der Tod des Königs könnte niemals den Mord an den vielen unschuldigen Seelen wiedergutmachen. Es war jedoch die Lösung, die den Opfern am gerechtesten wurde! Wie konnte Hapi dies sehen und dennoch dagegen entscheiden?
„Wenn du über den Mord an den beschenkten Zephyren sprichst", setzte Vina ruhig an, "Dann werde ich dir gerne helfen."
Luciel hielt inne, der Ärger kurz verflogen, "Woher weißt du...?"
Sie leckte sich ein Stück Ei vom Mundwinkel und Luciels Blick blieb schamlos an ihren Lippen hängen. Wie glücklich er sich schätzen konnte, neben ihr zu atmen!
„Hapi hat mir alles erzählt."
Er hatte Vina nicht in das Chaos reinziehen wollen. Seine Schuld begann bereits mit dem Moment, in welchem er sie nach Zephyr gebracht hatte. Sie war in keiner Verantwortung weitere seiner Probleme zu schultern! Seine Nachlässigkeit, seine Machtlosigkeit hatte nicht nur ihr geschadet, sondern das Leben einer Soldatin gekostet, die lediglich Shilohs Befehle ausgeführt hatte.
Shiloh... Eine weitere Person, deren Verbrechen noch ungebüßt waren.
„Warum erzählst du ihr sowas?"
Luciels Augen trennten sich ungerne von Vina. Hapi, wenn auch göttlich schön, war niemals ein vergleichbarer Anblick. Sein Anmut brach mit dem Augenblick, als sich sein Mund zum Sprechen öffnete.
„Wenn du es nicht machst."
Das Messer in des Prinzen Hand wog schwer mit einer Entscheidung. Sollte er der Versuchung nachgeben und es auf den Tod werfen, in der Hoffnung, es würde sich tief ein seiner Brust vergraben?
Nicht vor Vina.
„Und du bist dennoch willig, mir zu helfen? Trotz alledem?"
Blumen sprießten in seinem Herz, schlugen ihre Dornen in seine Adern und kitzelten sein Innerstes mit ihren Blüten, als sie eifrig nickte. Mögliche Skepsis, die diese Szene in ihm hervorrufen sollte, war rasch verdrängt.
„Vina hat kein Konzept von Tod", warf Hapi ein.
„Natürlich hat sie das nicht, wenn sie mit dir zusammenlebt."
Luciel hatte nie jemanden getötet. Oft Gedanken daran verschwendet, gewiss, aber kannte er niemanden, der sich nicht ab und an in Gewaltfantasien verlor, wenn der Zorn das Wesen übermannte. Wie würde es sich anfühlen, jeden Atemzug in der Schuld zu nehmen, eines anderen Luft geraubt zu haben? Wie viel Wasser bedurfte es, fremdes Blut von den Fingern zu waschen? Wie würde Luciels Geist aussehen, hätte er mit Vina getauscht und die Soldatin getötet? Wie erging es seinen Brüdern mit dieser Last?
Wie würde seine eigene Zukunft aussehen?
„Und du gedenkst sie nicht aufzuhalten?", fragte der Prinz, bevor ihn das Gedankenkarussell mitriss.
Hapi schmunzelte, "Ich konnte sie nie aufhalten, kann es jetzt nicht und werde es auch in Zukunft nicht können."
In Rätseln zu reden, musste eine Eigenart der Götter sein, mit der Luciel sich nie anfreunden könnte. Welche Macht hatte sie über ihn? Warum geizte er stets mit der Wahrheit, wenn er sie doch alle im Übermaß besaß?
„Du bist ein Gott, Vina ein Mensch", stocherte er.
Verrate dich, verhasple dich, lass dich provozieren und gib mir Antworten!
Doch der Todesgott wählte das bewusste Schweigen, ließ den Blick aus dem Fenster schweifen und trank genüsslich den Tee. Die eine Hand am Griff der Tasse, die andere die Untertasse haltend, kippelte er mit dem Stuhl nach hinten und beobachtete die Gärtner bei ihrer Arbeit mit einer Erhabenheit, bei der selbst Luciel Beschämtheit fühlte.
Wenn sich jemand erdreistete, den Palast der Zephyren als Eigentum anzusehen, dann wohl Hapi.
Vina beobachtete ihren Austausch mit leisem Frohsinn.
„Es freut mich, dass ihr allmählich Freunde werdet", sagte sie plötzlich.
Luciel verschluckte sich, ein Stuhl krachte samt Gott zu Boden. Das Zerschellen von Porzellan am Boden wurde überdeckt von lautem Husten.
„Wir sind keine Freunde!", rief Luciel zwischen hastigen Atemzügen.
Die Tür zu Luciels Gemächern schlug auf mit einer solchen Kraft, dass die Klinke gegen die Wand prallte. Deimos stürmte ins Zimmer, noch in Schlafgewändern und mit ungekämmten Haaren stützte er sich mit beiden Händen auf den Tisch, schob gefüllte Teller beiseite und beäugte die Gruppe mit hitzigem Blick. Das Gesicht rot vor Anstrengung angelaufen, musste er wohl den ganzen Weg hierher gerannt sein.
„Vinadeas Anhörung wurde vorgezogen...", hauchte er mit erschöpfter Stimme,"...auf jetzt."
Luciel sprang auf, das Buttermesser noch immer zwischen den Fingern verkrampft, als zwei Soldaten das Zimmer betraten, begleitet von Shiloh.
„Seit wann kann jeder nach Belieben die Gemächer eines Prinzen aufsuchen?", platzte es aus Luciel heraus.
Das Messer löste sich aus seinem Griff, schnellte mit Flammen begleitet auf die Kommandantin zu und vergrub sich neben ihr im Türrahmen. Unbeeindruckt musterte sie die Impromptu-Waffe und deutete auf Vina, die einige Schritte nach hinten wich, bis ihr Rücken gegen die Fensterbank stieß.
Die Soldaten näherten sich ihr, ihr! Dem blutrünstigen Raubtier, die Fesseln schützend von sich gestreckt, als vermochten sie den Unmut eines Gottes abwenden zu können. Hapi, längst wieder vom Boden aufgestanden, stellte sich ihnen in den Weg, deutete abfällig auf die Eisenfesseln.
„Diese werden wohl nicht nötig sein", mahnte er.
„Sie sind Vorschrift für Gefangene."
Hapi ließ Shilohs Worte unbeachtet, packte die Fesseln und warf sie kurzerhand durch das geschlossene Fenster. Sie fielen einige Stockwerke und landeten mit einem lauten Knall, den man bis oben hin vernahm, auf einer der unzähligen Skulpturen des Sonnengottes. Entrüstete Rufe schallten aus dem Garten jenseits des Zimmers. Scherben flogen auf den Tisch, verschwanden zwischen Obst, Säften und Gebäcken, doch der Gott verzog keine Miene und drehte sich zur wutentbrannten Kommandantin, "Hoppla."
Luciel packte Vina an den Schultern, fand ihre unruhigen Augen. Besaß kein Konzept von Tod und doch bebte sie unaufhörlich in seinen Armen.
„Es wird dir nichts geschehen." Für die letzten Worte beugte er sich zu ihr hinunter, hauchte die Worte gegen ihr Ohr, "Wir haben einen Plan. Sorge dich nicht."
Warum fühlte sich dies wie eine neue Lüge an?
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Götterparabeln I: Himmelserklimmer
FantasyKönigsstürzer. Vatermörder. Himmelserklimmer. Luciel hinterfragt nicht. Er dient seinem Sonnengott gewissenhaft, auch wenn er nicht versteht, warum alle anderen Götter verboten sind. Er vertraut seiner Familie, reist ins Exil und heiratet die sch...