Akzeptanz

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Herr Beckmann

Herrn Beckmann ging es besser. Nicht nur körperlich.

Er lag seit sein Sohn ihn gefunden hatte im Krankenhaus. Es tat ihm gut.

Er hatte Gesellschaft. Nette Zimmergenossen. Andere kümmerten sich um ihn. Er bekam essen, wurde zum Sport gebracht, sein Bett wurde gemacht. Er war beliebt bei dem Krankenpersonal und wurde verwöhnt.

Der Seelsorger kam alle paar Tage bei ihm vorbei. Er hatte Herrn Beckmann sehr geholfen. Vor allem dabei, seinen nahenden Tod nicht nur geistig sondern auch emotional anzunehmen.

Er hatte ihn auch ermutigt, mit seinen Kindern zu sprechen und sich ihnen zu öffnen. Sie waren aus allen Wolken gefallen als er ihnen eröffnet hatte, wie es ihm tatsächlich ging.

Alle hatten gedacht bei ihm wäre alles in Ordnung, er würde in sich ruhen und bräuchte sie gar nicht. Sie hatten sich sogar unnütz und abgelehnt gefühlt. Für Herrn Beckmann eine unfassbare Vorstellung. Er liebte und brauchte seine Familie.

Seit er ihnen das gesagt hatte, kamen sie regelmäßig. Irgendjemand war immer bei ihm. Seine Lieblingsenkelin lag im selben Krankenhaus wie er und freute sich wenn er bei ihr vorbei kam.

Herr Beckmann war glücklich. Über jeden neuen Tag.

Bis es keine neuen Tage mehr geben würde.

Thorben

Es war nicht einfach allen die Wahrheit zu sagen. Sie aufzuklären und ihnen das Herz zu brechen. Vor allem wenn das eigene Herz auch so schon schwer genug, und man verwirrt und traurig war, weil man diese Welt bald verlassen würde.

Er hatte noch die ein- oder andere Ohrfeige kassiert. Nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass seine Liebsten nicht nur erfahren hatten das er bald sterben würde, sondern er es ihnen auch monatelang verschwiegen hatte.

Alle waren so fassungslos und erschüttert gewesen. Seine Mutter war immer noch untröstlich. Sie hatte tagelang geweint. Sie hatte sich an ihn geklammert, hatte nicht gewusst wohin mit ihrer Ohnmacht und Verzweiflung.

Thorben wusste nicht, wie er dass alles überstanden hatte. Ihr Schmerz war sein Schmerz und wog schwer auf seinen Schultern. Er hatte das Gefühl auch sie trösten und sich um sie zu kümmern zu müssen. Dabei brauchte er genau dasselbe. Aber insgesamt ging es ihm besser seit es alle wussten. Vielleicht weil er nun nicht mehr alleine um seinen baldigen Tod trauern musste.

Sein Glück war Jessi. Er wusste nicht woher sie die Kraft nahm. Woher sie diesen unbändigen Willen und die Stärke bezog. Aber sie war seine Stütze. Sie fing ihn auf wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde weil die Erkenntnis, dass er bald sterben würde noch tiefer in sein Bewusstsein sickerte. Sie übernahm die Gespräche mit den Leuten die sich schockiert meldeten als es sich rumgesprochen hatte. Sie begleitete ihn zu den Arztterminen, sie hielt ihn Nachts in den Armen wenn er schreiend aufwachte. Und das alles obwohl sie selbst trauerte. Obwohl sie den Mann verlieren würde, mit dem sie sogar Kinder haben wollte.

Er würde sich darum kümmern müssen, dass sich jemand nach seinem Tod um sie kümmerte.

Das Schlimmste war, dass ihre gemeinsame Zeit ablief. Sie mussten diese nutzen. Jede Sekunde war kostbar.

Filippa

Nervös knetete sie ihre Hände und atmete tief durch während sie zum hundertsten Mal zur Tür sah.

„Filippa, entspann dich.", sagte Eduardo. „Deine Eltern werden es verstehen."

Sie schnaufte. Seine Zuversicht wollte sie haben. Aber sie kannte ihre Eltern.

„Du weißt doch, diese Art an mir, die dir manchmal solche Angst macht. Wo du dich fühlst wie ein kleiner Junge der gleich auf die tränengetränkte Matratze im dunklen Van gelegt wird." Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an.

„Ja.", antwortete Eduardo zögerlich.

„Rate mal von wem ich das hab!", forderte Filippa ihn auf.

„Deiner Mutter?" Eduardo fuhr fort als sie keine Reaktion zeigte. „Deinem Vater?"

„Ja."

„Von wem jetzt?", fragte er verwirrt.

„Genau. Von Beiden.", sagte sie.

Rückblickend gesehen, hätte ihm das eine Warnung sein sollen. Doch er hatte nur schwer geschluckt, seinerseits angefangen seine Hände zu kneten und war sitzen geblieben.

Und nun befand er sich mitten im Gespräch, im Kreuzfeuer, zwischen Filippa und ihren Eltern und versuchte nicht getroffen zu werden.

„Was soll das heißen, du willst eine Woche nach London?! Was ist mit deiner ärztlichen Versorgung in der Zeit? Und mit wem überhaupt?", fragte ihre Mutter aufgebracht.

„Mit ihm." Filippa wies mit dem Zeigefinger auf Eduardo. Ganz locker, als ob es selbstverständlich wäre.

Und da lief es lachend an ihm vorbei. Eduardos Vorhaben nicht getroffen zu werden.

„Was?", schrie ihre Mutter nun.

Eduardo lachte kurz auf, versuchte es aber unverzüglich in einen Husten umzuwandeln. Eine blöde Angewohnheit wenn er nervös war.

Filippa zuckte mit den Schultern. Klar, es tat ihr leid die Reise nicht vorher mit ihm durchgesprochen zu haben, aber da musste er jetzt durch.

„Wie soll das denn funktionieren? Du willst Fallschirm springen, tauchen, tanzen lernen, im Meer baden, nach London und was weiß ich nicht noch alles." Ihre Mutter schrie zwar nicht mehr, aber sie stand immer noch kurz davor.

„Du bist krank, Filippa.", versuchte ihre Mutter es nun auf die vernünftige Tour.

„Nein.", widersprach Filippa. „Ich bin tot. Zumindest bald."

Jeremy

Es ging ihm gut. Gott, was ging es ihm gut!

Wenn er die anderen Patienten der Psychiatrie in den Gruppensitzungen traf und ihnen zuhörte, fragte er sich unweigerlich was er sich eigentlich einbildete. Jeremy hatte nichts Schlimmes erlebt. Er hatte auch keine ernsthafte psychiatrische Krankheit die nicht heilbar war. Und wenn er über seine Probleme sprach, hatte er das Gefühl, die anderen würden sich innerlich an den Kopf fassen und mit den Augen rollen.

Also musste es ihm ja wohl gut gehen.

Er war schließlich nicht von seinen Eltern jahrelang körperlich und emotional misshandelt worden. Oder hatte gesehen wie mit seiner Schwester unaussprechliche Dinge getan worden waren. Er hörte auch keine Stimmen in seinem Kopf. Oder erbrach sein Essen wieder.

Er hatte einfach das Gefühl, dass Leben sei so überhaupt nicht lebenswert. Und egal was er tun würde, es würde auch nicht sinnhafter dadurch werden.

Sein Herz schlug, aber es war ihm egal. Seine Lungen füllten sich mit Sauerstoff, aber es belebte ihn nicht. Er aß, aber schmeckte doch nichts. Die Liste ließe sich endlos weiterführen.

Er fühlte sich tot.

Er war ein wandelnder Toter.

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Der Weg zum Licht am Ende des TunnelsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt