verdächtigt.

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Hannah und die anderen beiden spielen mit den Kindern irgend ein Spiel. Irgendwer muss irgendwen fangen. Ich habe keine Ahnung, wie genau das geht aber es interessiert mich auch nicht. Sie kreischen und lachen die ganze Zeit. Das ist nichts für mich. Ich setze mich zu Dennis auf eine Bank neben der Wiese.

„Wo warst du denn gestern so lange?" fragt er und fischt eine Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche. Er hält sie mir hin.

„Mit Freunden unterwegs", sage ich und nehme mir eine Zigarette. Er hält mir sein Feuerzeug hin. Ich nehme es.

„Hannah war ganz schön verwirrt", sagt er. Ich weiß. Ich habe heute lange mit ihr gesprochen. Ich habe mich entschuldigt. Schon wieder. Und ich habe ihr versprochen, dass ich mich bessern werde. Ich habe ihr erklärt, dass ich überfordert war.

„Und Wilma war sauer", sagt er und verstellt die Stimme. „Mensch, der kann doch nicht einfach so verschwinden. Hat der denn gar kein Verantwortungsgefühl? Wenn das sein Sozialarbeiter erfährt", er fuchtelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht.

„Sie ist ein totaler Freak", sage ich und lasse den Rauch aus meinen Lungen. Ich sehe sie an. Wilma steht in der Mitte der Kinder. Sie trägt komische Sandalen. Bestimmt sind das Gesundheitsschuhe. Sie plappert auf die Kinder ein. Doch die hören nicht zu. Eins der Kinder liegt auf dem Boden, das andere zieht sich die Schuhe aus und die anderen ratschen. Ich winke ihr zu und lasse den Rauch aus meiner Lunge. Sie schnaubt und dreht sich um. Dennis lacht und ich grinse.

„Soll sie es ihm doch sagen", sage ich, „ich habe keinen Bock, mich erpressen zu lassen."

„Hannah hat dich ganz schön verteidigt", sagt er. Ich sehe ihn an.

„Sie ist richtig sauer geworden. Das war eine Wahnsinns-Show, das hättest du sehen sollen. Mach dich mal locker – und - du bist wie ein kleines Kind, das alles petzt, hat sie geschrien", sagt er und lacht. Hannah hat mich verteidigt obwohl ich einfach abgehauen bin? Obwohl sie so sauer war.

„Sie weiß es, oder?", fragt Dennis. „Also, dass du wegen ihr die Sozialstunden machen musst, meine ich."

„Ja, ich habe es ihr gesagt", gebe ich zu.

„Dachte ich mir schon. Sonst hätte sie dich sicher nicht so verteidigt, wenn du einfach abhaust", sagt er. Ich antworte nicht.

„Kann ich mit dir mal über etwas reden?", fragt er und zieht an seiner Zigarette.

„Klar", sage ich. Ist es so ein Problem, dass ich mich gestern abgeseilt habe? Ist er auch eine kleine Wilma?

„Ich will dir echt nicht zu nahe treten, aber findest du nicht, dass sie sehr dünn ist?" Shit. Damit habe ich jetzt gar nicht gerechnet. Ja. Sie ist dünn. Sie ist so verdammt dünn und zerbrechlich. Ich weiß selbst nicht, was ich darüber denken soll.

„Wilma? Nein, finde ich nicht", sage ich und weiß, dass ein Witz unangebracht ist. Aber ich möchte nicht darüber nachdenken, wie dünn Hannah ist.

„Idiot", sagt er, „ich meine Hannah", er nickt mit dem Kopf in ihre Richtung. Meine Hannah. Drei Kinder haben sie gefangen und hängen an ihr dran. Sie trägt eins auf dem Rücken, die anderen klammern sich an ihre Beine.

„Ich finde sie wunderschön, weißt du?", sage ich, „aber bin ich echt erschrocken, als ich sie im Fluss im Bikini gesehen habe", ich erinnere mich an das nasse Shirt, an ihre Panik. Ich spüre jeden einzelnen ihrer Knochen, wenn ich sie berühre.

„Ich weiß nicht, ob das normal ist", sage ich ehrlich und ziehe an meiner Zigarette. Dennis holt tief Luft.

„Ich hab schon mit Valerie darüber geredet. Wir finden beide, dass sie zu dünn ist. Und, hast du sie schon mal etwas essen gesehen? Also was richtiges meine ich. Eine ganze Mahlzeit", fragt er und sieht mich an. Fuck ich weiß es nicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich achte doch nicht darauf, wer wann was isst.

„Ich habe nicht darauf geachtet", sage ich und gehe in Gedanken sämtliche Situationen im Speisesaal durch. Sie saß zwischen den Kindern, hat gelacht und die Kleinen haben sie angestrahlt. Sie hat Brote geschmiert. Aber hat sie sie auch gegessen? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, dass sie mal einen Apfel gegessen hat. Und Würstchen am Feuer. Aber mehr fällt mir nicht ein.

„Hast du sie schon mal Essen gesehen?", frage ich obwohl ich die Antwort schon kenne. Er drückt seine Zigarette im Gras aus und schüttelt den Kopf.

„War sie denn immer schon so dünn?" fragt er.

„Nein. Nein eigentlich nicht. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie ganz normal. Aber das ist Monate her. Vielleicht hat sie noch solchen Liebeskummer wegen meinem verdammten Bruder", überlege ich laut.

„Das kann sein", er nickt. „Aber wenn nicht",

„Glaubst du, das ist Absicht?" unterbreche ich ihn. Doch eigentlich will ich die Antwort nicht hören. Ich habe diesen Gedanken nie zu Ende gedacht. Ich habe es vermutet. Befürchtet. Verdrängt. Ich wollte das nicht glauben. Das ist alles eine richtig abgefuckte Scheiße. Warum tut sie sich das an?

„Ich weiß nicht. Mann. Das wär krass", sagt er. Krass. Wie das in dem Zusammenhang klingt. Krass, wenn sie nichts mehr isst. Krass, wenn sie immer schwächer wird. Krass, wenn sie sich langsam umbringt. Fuck. Wieso macht sie das.

„Was soll ich jetzt machen?" frage ich ihn.

„Finde raus, ob das Absicht ist", sagt er und hält mir noch eine Zigarette hin.

„Und dann?", ich höre mich an wie ein hilfloser Schuljunge, der nicht weiß, was zu tun ist. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich habe Angst, dass meine Vermutung stimmt. Ich habe Angst, dass sie krank ist. Und ich fühle mich schlecht, weil wir über sie sprechen. Ich sehe zu ihr. Sie lacht mit den Kindern. Ihre Jeans sitzt locker auf den Hüften. Die Ärmchen sind dünn. Ich hätte nie gedacht, dass das Armband aus Gänseblümchen so locker sitzt. Sie dreht sich zu mir um. Sie strahlt. Ihre Augen strahlen über die ganze Wiese. Sie hat mir verziehen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ich will nicht, dass sie merkt, dass ich hinter ihrem Rücken über sie rede. Sie dreht sich wieder um und rennt dem kleinen Paul hinterher. Dennis sieht sie eine Weile an.

„Und dann helfen wir ihr", sagt er und zieht an seiner Zigarette.

Fuck.

„Und dann helfen wir ihr", wiederhole ich.


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