Als Falrey zum Haus zurückkam, war Emila nicht da. Er schloss mit dem Schlüssel, den sie ihm gegeben hatte – den normalerweise Jaz dabeihatte, aber zurzeit brauchte er ihn ja nicht – die Türe auf und trat ein. Die Temperaturen im Haus waren im Vergleich zu draußen angenehm kühl, der steinerne Boden unter seinen Füßen sogar fast kalt. Er legte den Beutel mit den Einkäufen zusammen mit dem übrigen Geld auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank, dann zog er seinen Rucksack, der an einer Wand lehnte, zu sich heran und begann ihn auszupacken. Es war nicht viel darin. Etwas übriger Proviant, der leere Wasserschlauch, ein Messer, ein Löffel, eine dicke Wolldecke, eine Jacke, Feuersteine und Zunder, zwei Kerzenstummel, Nadel und Faden, ein Stück Leder, das übriggeblieben war, nachdem er seinen Rucksack geflickt hatte. Nützliche Dinge eben.
Falrey spähte in den Rucksack und griff dann noch mal hinein. Er wusste, dass da noch etwas war. Suchend tastete seine Hand umher, doch sie stieß überall nur an das harte, rauhe Leder und den Holzrahmen des Rucksacks. Angst schlich sich in sein Herz. Er hatte es doch nicht etwa verloren? Seine Gedanken begannen zu rasen. Hatte er es irgendwann herausgenommen? Nein, daran würde er sich erinnern. War es ihm herausgefallen? Nein...nein! Wieder und wieder fuhr seine Hand über den Boden des Rucksacks. Nichts. Ohne dass er es wollte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Plötzlich spürte er, wie etwas seinen Arm streifte, etwas Weiches. Er tastete danach und eine Welle der Erleichterung strömte durch seinen Körper. Da war er, der Beutel, hatte sich mit seiner Schnur an einem der Holzstreben verfangen und hing deshalb auf halber Höhe.
Mit zitternder Hand zog er ihn heraus und drückte ihn an sein Herz. Eine Träne lief ihm über die Wange. Im Grunde war es lächerlich. Wie konnte man wegen eines ledernen Beutels und seinem bisschen Inhalt weinen? Aber diese Sachen waren alles, was ihm etwas bedeutet hatte und was er hatte mitnehmen können. Sie waren das einzige, was ihm geblieben war aus all den Jahren. Noch eine Träne gesellte sich zu der ersten, lief ihm übers Kinn und tropfte in den Rucksack. Seine Finger zitterten, als der den Knoten in der Schnur öffnete und den Rand des Beutels ergriff, um ihn auseinander zu ziehen, doch etwas ließ ihn zögern. Noch nicht. Er würde den Beutel noch nicht öffnen. Er würde sich seinen Inhalt aufbewahren für dann, wenn er ihn brauchte. Langsam zog er die Kordel wieder an und machte einen Knoten hinein. Noch nicht.
Er legte den Beutel vorsichtig zurück in den Rucksack, zusammen mit den anderen Sachen, nur die Esswaren behielt er zurück und platzierte sie, nachdem er sich versichert hatte, dass sie noch gut waren, auf der Ablagefläche neben dem Herdfeuer. Vielleicht konnte Emila sie gebrauchen.Dann wusste er nicht mehr, was er tun sollte. Zuerst sah er eine Weile aus dem Fenster und beobachtete die Leute, die draußen vorbei gingen. Dann setzte er sich zurück auf die Bank und sah sich in der Küche um, betrachtete die Wände mit den Nischen, die wie Regale waren, die Dinge, die darin standen – Teller, Schüsseln, Becher, zwei Töpfe, noch ein Topf, in dem aber eine kleine Pflanze wuchs, und viele andere seltsame Dinge – die an der Wand hängenden Wasserschläuche, den Eimer am Boden, den Tisch mit den beiden Bänken in der Mitte des Raums, die Feuerstelle, in der nur kalte Asche lag, die beiden Töpfe darauf – in einem war Eintopf, im anderen Wasser – und die Kochlöffel, die daneben hingen, die Ablagefläche mit den Küchenmessern, den steinernen Kasten darunter, in dem die Vorräte waren, die Kräuter, welche an knapp unter der Decke quer durch den Raum gespannten Schnüren hingen, den Durchgang zum Flur und den steinernen Boden.
Falrey hielt Ausschau nach der Blutlache, die sich am Abend gebildet hatte, doch da war nichts mehr, nur blanker Stein. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Vor seinem inneren Auge war es wieder da, das Blut, breitete sich dick und rot auf dem hellen Untergrund aus, reflektierte das flackernde Licht des Feuers. Lange hatte er es angestarrt, zugesehen, wie es immer dunkler wurde, bis es fast schwarz war, während er versucht hatte, den sich windenden Jaz festzuhalten.
Emila musste es weggewischt haben. Das war wohl der Vorteil eines steinernen Bodens – man brachte ihn schnell wieder sauber. Der Nachteil war, dass man kalte Füße bekam.
Falrey spielte mit dem Gedanken hochzugehen, um zu sehen, wie es Jaz ging, doch er verwarf ihn sofort wieder. Er konnte nicht genau sagen warum, doch der Junge war ihm unheimlich. Obwohl er sich eingestehen musste, dass er ihn auch ein Stück weit bewunderte.
Er ließ sich rückwärts auf die Bank fallen und starrte an die Decke. Langeweile machte sich in ihm breit. Die vergangenen Wochen und Monate hatte er nur ein Ziel gehabt: Niramun. Er war gelaufen und immer weiter gelaufen, Tag für Tag, auch wenn es regnete, wenn seine Füße schmerzten und wenn er müde war, weil er in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Doch jetzt, jetzt hatte er sein Ziel erreicht. Was sollte er jetzt tun?
Natürlich, er wollte seinen Vater finden, aber wie?
Es war nicht einfach gewesen, hierher zu gelangen, aber egal wie weit der Weg war, er hatte stets gewusst, was er zu tun hatte. Er musste nur laufen, immer weiter. Aber jetzt konnte er nirgends mehr hingehen, was nun vor ihm lag war nicht einfach eine Strasse, es war eine Aufgabe, die so kompliziert schien, dass er schon fast verzweifelte, wenn er nur daran dachte. Wie nur sollte er einen Mann unter tausenden, die in dieser Stadt lebten, finden? Zumal er nicht mal wusste, wie er aussah?
Niedergeschlagen lag er auf der Bank, seine Füße baumelten über dem Ende, doch sie berührten den Boden nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht einmal, was man in einer Stadt überhaupt tun konnte, wenn man nicht arbeitete. Bevor er seine Reise angetreten hatte, war er nie in einer Siedlung gewesen, die mehr als einige Dutzend Leute umfasste.
Seine Gedanken flogen zurück in jene Zeit. Wirklich langweilig war ihm selten gewesen. Oft gab es etwas zu tun. Er hatte auf den Feldern gearbeitet und im Wald, wo er mit den anderen Jungen die gefällten Bäume entästete und einen Weg ins Gebüsch schlug, damit Ewird die Stämme mit seinem Pferd zum Dorf bringen konnte. Früher hatte er vormittags den Unterricht besucht, abends beim Feuer geschnitzt. Oder er hatte seiner Mutter bei der Hausarbeit geholfen. Und wenn sie keine Aufgabe für ihn hatte, dann war er in den Wald gelaufen. Tagelang hatte er zwischen den Bäumen gesessen, war gerannt, geklettert. Er hatte den Wald gekannt, wie kaum ein anderer im Dorf und doch hatte er immer wieder etwas Neues gefunden, neue Bäume, neue verborgene Wege, neue Verstecke. Manchmal war er auch am Fluss gewesen, hatte Steine ins Wasser geworfen oder war geschwommen. Oder er hatte sich im Gebüsch versteckt und die anderen beobachtet. Meistens jedoch war er durch den Wald gelaufen, auf der Suche nach Orten, die noch niemand entdeckt hatte.
Und genau das, so beschloss er, während er sich aufrichtete, würde er auch jetzt tun. Was war denn im Grunde die Stadt anderes als ein Wald? Gut, anstatt Holz war da Stein, anstatt weiche Erde ausgetretener Staub und anstatt der Baumkronen über ihm nur der tiefblaue Himmel mit dem Pfeiler, der ihn durchschnitt, auf der einen, der gezackte Rand des Kraters auf der anderen Seite. Und es waren Menschen um ihn herum. Menschen störten ihn nicht, solange sie nichts von ihm wollten und das taten sie selten. Meistens bemerkten sie ihn nicht einmal.
Er sprang auf und strich mit den Händen über seine Tunika. Dann wurde ihm bewusst, wie verzweifelt sein Versuch, positiv zu denken, gerade war. Vergiss es, machte er sich klar. Es ist nicht dasselbe. Es wird nie wieder dasselbe sein. Es ist vorbei. Er versuchte, den Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken, doch es funktionierte nicht wirklich. Nie wieder... Nein, Niramun war nicht der Wald und es war nicht seine Heimat, auch wenn sein Vater von hier kam.
Aber vielleicht, vielleicht würde es eines Tages seine Heimat sein. Vielleicht würde er seinen Vater tatsächlich finden und dann bei ihm wohnen. Emila wollte Jaz suchen lassen, aber Jaz war dazu vorläufig nicht imstande. Also musste er sich selber umsehen. Vielleicht lächelte ihm ja einmal im Leben das Glück und er lief einfach zufällig in ihn hinein. Oder er ähnelte ihm so sehr, dass ihn jemand verwechselte, auch wenn das bei dem Größenunterschied wohl kaum möglich war. Seine Mutter hatte gesagt, sein Vater sei größer als die allermeisten Männer, so groß, dass er bei den Wirtshaustüren andauernd den Kopf angeschlagen hatte. Groß und mit breiten Schultern, ein stattlicher Mann eben. Im Vergleich dazu war er, Falrey... er stellte den Vergleich lieber gar nicht an, denn er fiel massiv zu seinen Ungunsten aus. Vielleicht wuchs er ja noch. Irgendwann.