Kapitel 9 - Ratlos

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Als Falrey zum Haus zurückkam, war Emila nicht da. Er schloss mit dem Schlüssel, den sie ihm gegeben hatte – den normalerweise Jaz dabeihatte, aber zurzeit brauchte er ihn ja nicht – die Türe auf und trat ein. Die Temperaturen im Haus waren im Vergleich zu draußen angenehm kühl, der steinerne Boden unter seinen Füßen sogar fast kalt. Er legte den Beutel mit den Einkäufen zusammen mit dem übrigen Geld auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank, dann zog er seinen Rucksack, der an einer Wand lehnte, zu sich heran und begann ihn auszupacken. Es war nicht viel darin. Etwas übriger Proviant, der leere Wasserschlauch, ein Messer, ein Löffel, eine dicke Wolldecke, eine Jacke, Feuersteine und Zunder, zwei Kerzenstummel, Nadel und Faden, ein Stück Leder, das übriggeblieben war, nachdem er seinen Rucksack geflickt hatte. Nützliche Dinge eben.

Falrey spähte in den Rucksack und griff dann noch mal hinein. Er wusste, dass da noch etwas war. Suchend tastete seine Hand umher, doch sie stieß überall nur an das harte, rauhe Leder und den Holzrahmen des Rucksacks. Angst schlich sich in sein Herz. Er hatte es doch nicht etwa verloren? Seine Gedanken begannen zu rasen. Hatte er es irgendwann herausgenommen? Nein, daran würde er sich erinnern. War es ihm herausgefallen? Nein...nein! Wieder und wieder fuhr seine Hand über den Boden des Rucksacks. Nichts. Ohne dass er es wollte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Plötzlich spürte er, wie etwas seinen Arm streifte, etwas Weiches. Er tastete danach und eine Welle der Erleichterung strömte durch seinen Körper. Da war er, der Beutel, hatte sich mit seiner Schnur an einem der Holzstreben verfangen und hing deshalb auf halber Höhe.

Mit zitternder Hand zog er ihn heraus und drückte ihn an sein Herz. Eine Träne lief ihm über die Wange. Im Grunde war es lächerlich. Wie konnte man wegen eines ledernen Beutels und seinem bisschen Inhalt weinen? Aber diese Sachen waren alles, was ihm etwas bedeutet hatte und was er hatte mitnehmen können. Sie waren das einzige, was ihm geblieben war aus all den Jahren. Noch eine Träne gesellte sich zu der ersten, lief ihm übers Kinn und tropfte in den Rucksack. Seine Finger zitterten, als der den Knoten in der Schnur öffnete und den Rand des Beutels ergriff, um ihn auseinander zu ziehen, doch etwas ließ ihn zögern. Noch nicht. Er würde den Beutel noch nicht öffnen. Er würde sich seinen Inhalt aufbewahren für dann, wenn er ihn brauchte. Langsam zog er die Kordel wieder an und machte einen Knoten hinein. Noch nicht.
Er legte den Beutel vorsichtig zurück in den Rucksack, zusammen mit den anderen Sachen, nur die Esswaren behielt er zurück und platzierte sie, nachdem er sich versichert hatte, dass sie noch gut waren, auf der Ablagefläche neben dem Herdfeuer. Vielleicht konnte Emila sie gebrauchen.

Dann wusste er nicht mehr, was er tun sollte. Zuerst sah er eine Weile aus dem Fenster und beobachtete die Leute, die draußen vorbei gingen. Dann setzte er sich zurück auf die Bank und sah sich in der Küche um, betrachtete die Wände mit den Nischen, die wie Regale waren, die Dinge, die darin standen – Teller, Schüsseln, Becher, zwei Töpfe, noch ein Topf, in dem aber eine kleine Pflanze wuchs, und viele andere seltsame Dinge – die an der Wand hängenden Wasserschläuche, den Eimer am Boden, den Tisch mit den beiden Bänken in der Mitte des Raums, die Feuerstelle, in der nur kalte Asche lag, die beiden Töpfe darauf – in einem war Eintopf, im anderen Wasser – und die Kochlöffel, die daneben hingen, die Ablagefläche mit den Küchenmessern, den steinernen Kasten darunter, in dem die Vorräte waren, die Kräuter, welche an knapp unter der Decke quer durch den Raum gespannten Schnüren hingen, den Durchgang zum Flur und den steinernen Boden.

Falrey hielt Ausschau nach der Blutlache, die sich am Abend gebildet hatte, doch da war nichts mehr, nur blanker Stein. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Vor seinem inneren Auge war es wieder da, das Blut, breitete sich dick und rot auf dem hellen Untergrund aus, reflektierte das flackernde Licht des Feuers. Lange hatte er es angestarrt, zugesehen, wie es immer dunkler wurde, bis es fast schwarz war, während er versucht hatte, den sich windenden Jaz festzuhalten.
Emila musste es weggewischt haben. Das war wohl der Vorteil eines steinernen Bodens – man brachte ihn schnell wieder sauber. Der Nachteil war, dass man kalte Füße bekam.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt