Kapitel #069

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Ich sprintete den Mittelgang entlang. Mein Oberschenkel fühlte sich inzwischen seltsam taub an, aber das ignorierte ich. Es gab wichtigeres. Zum Beispiel, dass die schmerzhaften Schreie der Frau inzwischen verstummt waren. Ich beschleunigte noch mehr, hetzte durch das Labyrinth aus Servern. Als ich in der Nähe von ihr sein müsste suchten meine Augen jede Reihe ab. Und dann entdeckte ich sie. Sie lag in einem der Gänge, auf dem Boden zusammengerollt. Eine Blutpfütze hatte sich um ihren Körper gebildet. Vorsichtig ging ich näher und kauerte mich neben ihr auf den Boden. Obwohl ich schon eine böse Vorahnung hatte, fühlte ich doch nochmal nach ihren Puls. Sie hatte keinen. Diese Frau war definitiv tot. Dann hob ich die Hand zu ihrem Gesicht, drückte einen meiner Finger auf ihre Wange und nahm in dann wieder weg. Die Haut, auf die ich gedrückt hatte, wurde kurz rosig und dann wieder bleich. Dieses Phänomen tritt nur die erste halbe Stunde nach dem Tod auf. Es handelt sich hier also auch auf jeden Fall um die Frau, die ich hab schreien hören. Sie war noch nicht lange tot. Seufzend richtete ich mich wieder auf. Vielleicht hätte ich sie retten können, wenn ich schneller... Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als ich noch etwas sah. Direkt neben der Leiche hatte jemand etwas hingeschrieben. Mit Blut. Unbehaglich ging ich näher, bis ich es lesen konnte. 'Dreh dich um' stand da in großen blutroten Buchstaben. Ich erstarrte und bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Das war ja wie in einem Psycho-Horror-Film. Meine Hände zitterten. Ich würde alles dafür geben, mich jetzt nicht umdrehen zu müssen. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach gerade aus wegzurennen. Das Problem war nur, dass ich die Präsens des Feindes jetzt ganz genau in meinem Rücken spürte. Ich spürte den bohrenden Blick und hörte das leise, gleichmäßige Atmen. Wenn ich jetzt wegrenne, schießt er mir sicher in den Rücken. Und dann kann ich Alex nicht mehr helfen. Und Astrid auch nicht mehr. Dann ist letzendlich gar niemandem geholfen. Also fasste ich meinen ganzen Mut, zog mit einer Hand eines der Wurfmesser und wirbelte herum. Er lachte mich herzlich an "Das war doch ein netter Effekt, oder? Mit dem schreien und der blutigen Botschaft. Klar hätte man das auch anders lösen können, aber es soll ja auch ein bisschen Spaß machen...". Ich sah ihn wütend an, das Messer bereit zum Wurf "Dennis".

In dem Moment fragte ich mich ernsthaft, wie ich diesen Typen mal lieben konnte. Er war doch psychisch krank! Er sollte definitiv in die Geschlossene eingewiesen werden. "Lucy, schön dich hier zu sehen" lächelte er seelenruhig. Jedoch bemerkte ich, dass seine Hand auf seiner Waffe lag, die noch am Gürtel befestigte war. "Was ist nur aus dir geworden?" fragte ich traurig. Aus einem netten, charmanten Jungen war ein Psychopath mit blutverschmierten Händen und wirrem Blick geworden. Seine Mine verhärtete sich "Ich war schon immer so. Gut, ich war wirklich mal auf der Seite der Rebellen... Aber dann kam CodeSystems, beziehungsweise dein Bruder und hat mir dieses unschlagbare Angebot gemacht. Und da begriff ich, dass die Rebellen niemals auch nur die geringste Chance gehen CodeSystems haben werden. Warum also auf der Seite der Verlierer bleiben, wenn mir die wahren Sieger ein Leben in Reichtum und Frieden und mit Macht versprechen konnten. Die Rebellen sind wie kleine Kinder, sie verstehen nicht, wie man Politik macht. Diese Leute hier, die haben Ahnug". "Wer hat dich nur dieser Gehirnwäsche unterzogen?" fragte ich und musterte ihn kritisch. Er streckte die Hand, die nicht an seiner Waffe lag, nach mir aus "Komm auf unsere Seite, Lucy. Du kannst im Leben noch so viel erreichen. Kehre den Rebellen den Rücken. Sie haben keine Chance. Lebe das Leben einer Siegerin". "Einer Siegerin?!" fragte ich und lachte bitter "Ja klar, wohl eher einer Mörderin! In einer Stadt, die von CodeSystems regiert wird, möchte ich keinen Tag länger leben. Eher sterbe ich für die Freiheit, als auch nur noch einen Tag diese Unterdrückung mit anzusehen. Die Rebellen werden siegen, Dennis. Und sie werden eine neue, bessere Welt schaffen. Da kannst du sagen, was du willst". Überrascht von meiner Rede starrte er mich an. Dann plötzlich veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Er sah... schuldbewusst aus? Fast mitleidig sah er mich an "Dann tut es mir leid, Lucy. Du hattest großes Potential. Ich habe es wirklich versucht. Aber du lässt mir keine Wahl". Ich wusste, was jetzt kam und war daher eine Sekunde schneller als Dennis. Er hatte seine Waffe noch nicht mal ganz aus dem Holster gezogen, da hatte ich mein Messer schon geworfen. Ein paar mal routierte es um seine eigene Achse, dann steckte es bis zum Schaft in Dennis Arm, mit dem er die Waffe auf mich richten wollte. Sofort ließ er reflexartig die Pistole los und schnappte zischend nach Luft. Ohne Pause warf ich noch ein zweites und ein drittes. Das eine bohrte sich in sein linkes, das andere in sein rechtes Bein. Sofort brach er zusammen und hielt sich mit vor Schmerz verzehrtem Gesicht seine Wunden. Langsam schlenderte ich auf ihn zu und nahm unterwegs noch die Pistole, die er fallen gelassen hatte, auf und steckte sie an meinen eigenen Gürtel. Bei ihm angekommen, zog ich meine Messer aus seinen Wunden und steckte sie weg. Er schrie vor Schmerz auf. Als ich einfach gehen wollte, hielt mich seine Stimme auf "Willst du mich nicht töten?". Ich drehte mich wieder zu ihm um und lächelte auf ihn runter "Ich? Wieso sollte ich? Aber mal schauen, ob du es hier raus schaffst, bevor der ganze Laden in die Luft fliegt". Seine Augen weiteten sich. Ich beugte mich zu ihm runter und zischte "Auf Nimmerwiedersehen, Dennis". Dann stand ich auf, drehte ihm den Rücken zu und ging.

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