12.

6 0 0
                                    

Albert lief zügig auf und ab. Victoria wartete ironisch darauf, dass ihr Vater ein Loch in den schweren, dicken Perserteppich lief. Der angebliche George stand angelehnt im Türrahmen. „Worüber denkst du so nach Albert?" fragte der Blonde. Albert blieb abrupt stehen. Er schaute erst den Blonden an, dann seine Tochter und dann wieder den Blonden. Er hatte die Augen seiner Mutter. Dieselben eiskalten farblosen Augen. Und doch ein so gutes Herz. Schnell verdrängte Albert den Gedanken an die verstorbene Mrs. Harwood.

„William, Victoria..." sagte er scharf und schaute sie abwechselnd an „mir ist soeben eingefallen, dass wir unser Blickfeld ein wenig erweitern müssen. Wie wir wissen will dieser Klifford seinen Sohn Harry mit Anne Sophie Barent verheiraten." Irgendetwas verkrampfte sich schon wieder in Williams Brust. „Doch dabei haben wir Jamón vergessen. Ich hatte eigentlich gedacht er wäre schon vor zehn Jahren weg vom Fenster gewesen. Doch nun ist er wieder da. Wir müssen herausfinden warum und was dieser Jamón will. Denn meinen Informationen zufolge hat er vor zehn Jahren nur deshalb aufgehört Jagd auf die Barents zu machen, weil Klifford ganz nebenbei ein ordentliches Sümmchen auf Jamóns Konto hinterlassen hat. Wir müssen herausfinden ob Jamón direkt zu Klifford gehört. Und wenn ja, warum er dann am Samstag Anne Sophie als Druckmittel gegen ihn haben wollte." Albert hatte seine Ausführung beendet und Victoria und Will versuchten sich die Informationen so einzuprägen, dass sie nichts vergaßen. „Victoria, von dir erwarte ich morgen, dass du dich bei Anne Sophie entschuldigst. Bieg das wieder gerade, Zickenkrieg ist das Letzte was ich gerade gebrauchen kann! Und..." Will lachte laut auf über Alberts Ermahnung. „Was ist...?" fragte der Unterbrochene ein wenig grimmig. „Wenn du keinen Zickenkrieg möchtest Albert, wirst du es mit Anne Sophie morgen schwer haben. Sie scheint nämlich irgendwie auf Zickereien vorprogrammiert zu sein." schmunzelte Will und erinnerte sich genüsslich an den heutigen Morgen. „Das war ein wirklich unnötiger Kommentar William." sagte Albert streng. Will konnte sich dennoch ein Grinsen nicht verkneifen. „Und vergiss nicht," fuhr Albert an ihn gewandt fort, „wenn sie da ist, hast du wieder auf den Namen George zu hören. Ich möchte nicht noch einmal erleben, dass du, wie letztens beim Kaffetrinken bei den Baskervills, einfach weiter deinen Kuchen mampfst weil du dich nicht angesprochen fühlst!" Will zwang sich beim Gedanken daran nicht laut loszulachen. Er hatte sehr wohl verstanden, dass Miss Baskervill ihn angesprochen hatte. Aber das ständige ‚Ach Mr. George hier, ach Mr. George da' war ihm einfach gehörig auf die Nerven gegangen. „Und vergesst bitte auch nicht, das ihr ein glückliches Pärchen seid." fügte Albert noch an beide gewandt hinzu. „Aber....!" protestierte Victoria. Doch ihr Vater schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. „Wenn du ihn als deinen freund vorgestellt hast, müsst ihr das jetzt auch weiterhin durchziehen!" stellte er leicht verärgert klar und somit war das Gespräch beendet.

Anne Sophie trank den letzten Schluck der Krankenhausselters bevor sie aus Marthas altem Auto stieg. Sie schüttelte sich. An dieser sogenannten Selters war alles falsch, was man nur falsch machen konnte. Es sprudelte nicht, schmeckte aber trotzdem nach Kohlensäure. Immer noch leicht benommen trottete sie hinter Martha die Stufen hinauf. Das Geschrei der Zwillinge war mal wieder nicht zu überhören. Nachdem Martha die Wohnungstür aufgeschlossen hatte schnappte sich Anne Sophie ihre Schultasche – die immer noch im Flur lag – und ging wortlos in ihr Zimmer. Erst da schlüpfte sie aus ihren Schuhen, ließ ihre Schultasche in die nächstbeste Ecke fallen und schmiss sich mit dem Umschlag aufs Bett. Eine weile lang lag sie nur so da und starrte an die weiße Decke mit der billigen, rissigen Tapete. Die Sache mit ihrem Vater wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie versuchte an alles mögliche zu denken. Doch egal wo sie ansetzte, zum Schluss blinkte immer wieder dieser eine Gedanke auf der Innenseite ihrer Stirn: ‚MEIN VATER HAT EINE FRAU VERGEWALTIGT'. Es half alles nichts. Sie seufzte. Wenn sie es nicht fertig brachte nicht an diese blöde Behauptung zu denken, dann konnte sie ebenso gut den Brief ihres Vaters lesen. Mit leicht zittrigen Händen öffnete sie den Umschlag. Anne Sophie hoffte einerseits, dass der Inhalt dieses Umschlages sie ablenken würde. Hatte aber andererseits Angst davor, dass ihr Vater ihr dass beichtete, was sie momentan noch als eine von Jamón erfundene Geschichte abstempeln konnte.

          

Zum Vorschein kam ein gedrucktes, zusammengeheftetes Papierbündel, auf dessen erster Seite groß das Wort ‚Vertrag' stand und ein klein zusammengefalteter Brief mit der sauberen Handschrift ihrer Mutter. Leicht irritiert darüber, dass sie einen Vertrag von ihren Eltern zugeschickt bekam, beschloss sie erst den von Hand geschriebenen Brief zu Lesen. Vielleicht würde sie ja eine Erklärung darin finden. Sie faltete also das dünne linierte Papier auf und las.

Meine liebe Tochter,

Anne Sophie schnaubte auf. Nun wurde sie nicht einmal bei ihrem Namen genannt. Jetzt hieß sie wohl einfach nur noch ‚Tochter'. Leicht verletzt las sie weiter.

Wir konnten uns gar nicht richtig von dir verabschieden, hoffen aber trotzdem, dass es dir wirklich so gut geht wie Mr. Klifford behauptet hat.

Anne Sophie glaubte sich verlesen zu haben. Wie hatte Mr. Klifford denn behaupten können ihr ginge es gut? Sie war ihm doch nach dem Kaffetrinken nicht noch einmal begegnet.

Wir sind Harry so dankbar, dass er dich so geistesgegenwärtig aus der Gefahrenzone geholt hat, dass wir ihm die Wahl deines Kleides für die Hochzeit überlassen haben. Er hat sich gefreut wie ein Kind und ein wirklich sehr schönes Kleid ausgesucht. Du darfst es nächstes Wochenende einmal probe tragen.

Ihr klappte während des Lesens der Mund auf. Wer hatte gesagt, dass Harry sie aus der Gefahrenzone geholt hatte? Harry! Wenn überhaupt jemand einen aus der Gefahrenzone gelozt hatte, dann war es ja wohl sie selbst gewesen. Schließlich hatte sie die Idee mit dem Fahrstuhl gehabt! Und dass Harry für seine nicht vollbrachte Heldentat auch noch IHR Hochzeitskleid aussuchen durfte machte den Wahnsinn ja perfekt. Sie durfte nun also nicht nur einen Mann heiraten, den sie überhaupt nicht richtig kannte, nein, jetzt durfte sie nicht einmal selbst ihr Hochzeitskleid aussuchen!

Eine Steile falte hatte sich längst zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Wütend begann sie weiter zu lesen.

Mr. Klifford kümmert sich noch diese Woche um die ganzen organisatorischen Dinge. Schließlich bleiben uns nur noch knapp vier Wochen bist zu deiner und Harrys Vermählung.

Wieder einmal stellte Anne Sophie verärgert fest, dass dieser Klifford die Fäden in der Hand hielt. Alles verlief so wie er es wollte: die Hochzeit fand in einem Monat statt und damit auch ja nix schief ging übernahm er auch gleich noch die gesamte Organisation. Anne Sophie hatte nicht übel Lust diesem eingebildeten, selbstverliebten Ekelpaket mal eine schlagkräftige Gesichtsmassage zu verpassen.

Ich und dein Vater finden es ist nun auch an der Zeit darüber nachzudenken die Zwillinge einzuweihen. Natürlich würden wir sie gern weiter in Sicherheit wissen. Aber ich finde, wir haben sie lange genug belogen. Du hast Recht. Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, dass sie Eltern haben. Sie haben ein Recht darauf zu wissen, wer sie selbst sind. Dein Vater und ich haben beschlossen, dass sie jetzt alt genug sind um mit diesem Wissen verantwortungsbewusst umzugehen.

Sie dachte daran zurück als sie selbst zehn Jahre alt war und Mühe hatte das Geheimnis für sich zu behalten. Man war nie alt genug, fand Anne Sophie.

Trotzdem möchten wir dich bitten, es ihnen noch nicht diese Woche zu verraten. Dein Vater ist gerade damit beschäftigt einen Besuch für übernächste Woche zu planen. Wir werden euch abholen lassen und euch sicher wieder zurück bringen.

‚Was für eine glorreiche Idee!' dachte Anne Sophie ironisch. Sie fand, dass es wieder ein, für ihre Eltern typisches Vorhaben war. Sie stellten sich die Begegnung wohl ganz einfach vor. Vielleicht erwarteten sie sogar, dass Lea und Eric ihnen vor Dankbarkeit in die Arme fielen. Anne Sophie malte sich die Gesichter von ihren Eltern aus, wenn die impulsive Lea anfangen würde eine hitzige Diskussion zu führen und der sensible Eric sie schlichtweg einfach ignorierte. Dann würden sie schon sehen, was sie davon hatten ihre Kinder zehn Jahre lang zu verleugnen, dachte Anne Sophie mit ein wenig Genugtuung.

SubmergedWhere stories live. Discover now