Die ganze Geschichte

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Aus der Sicht von Paul Mell:

Der Kater war nicht das Komischste, mit dem ich am nächsten Morgen erwachte. Es war das Gefühl auf meinen Lippen. Und die nüchterne Erinnerung an die Tatsache, dass Idris mich geküsst hatte. Kein neckender Kuss oder ein Kuss um mich zu ärgern sondern ein richtiger, leidenschaftlicher Kuss auf den Mund.
Was war in ihn gefahren? Oder über ihn gekommen? Ob das wieder einer seiner Witze war? Wollte er testen, ob ich nicht bereit für meine Freundin war, ganz einfach daher, da ich vom anderen Ufer kam? Oder konnte es tatsächlich sein, dass Idris schwul war?
Aber das hätte ich doch wissen müssen! Mein Bruder konnte doch nicht schwul sein ohne mir etwas davon zu erzählen? Was hatte ihn davon abgehalten es mir zu sagen? Wie lange war er schon so?
Hunderte Fragen und noch mehr sammelten sich in meinem Kopf an. Es war als hätte mein Kopf den Antrag gestellt so viele Fragen über Idris zu bekommen wie möglich und jede einzelne Gehirnzelle musste nun seinen Senf dazugeben.
Selbst meine Eltern merkten, dass etwas nicht mit mir stimmte doch ich sagte ihnen einfach die Wahrheit und behauptete, ich hatte einen Kater.
Während wir frühstückten spürte ich noch immer Idris Lippen und das machte mich nervös. Was war, wenn er es mir nicht gesagt hatte, weil er Angst hatte, damit unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen? Aber dachte er wirklich ich würde einfach vor ihm davonlaufen nur weil er schwul war?
"Oh nein...", flüsterte ich plötzlich, als mir einfiel, dass ich ihn eine Schwuchtel genannt hatte. Aber das war ja nicht so gemeint gewesen! Ich hatte ja nicht ahnen können, dass er wirklich eine war! Also keine Schwuchtel... aber eben homosexuell. Und gab es davon nicht Abstufungen? Zugegeben hatte ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht.
Und wenn ich etwas nicht wusste setzte ich mich meistens vor meinen Mac und googelte es.
Okay, das Schwule auf Männer stehen war mir klar aber was danach kam war absolut abgespaced.
Bisexuell war ja noch verständlich aber wie unterschied sich Pansexualität davon? Und dann gab es noch etwas namens Androphilie, bei dem man überwiegend Männer bevorzugte.
Es war zunächst ziemlich verwirrend aber auch echt spannend und so scollte ich durch verschiedene Artikel und sah mir gegen Ende ein paar Videos von einem schwulen Ehepaar an, von welchem einer eine berühmte Dragqueen war. Etwas befremdlich aber durchaus lustig und informativ. Ich beobachtete die beiden. Zwei Männer die sich vor Gott und der Welt liebten. Kein Kunststück wenn man in West Hollywood lebte, einem Ort an dem die Regenbogenflagge zur Nationalflagge geworden war. Doch ich konnte Idris verstehen, dass er sich nicht hier im verklemmten Niederbayern outen wollte.

Als Moni mir gegen Mittag eine Nachricht schrieb hatte ich bereits ganz vergessen, dass ich mit ihr auch noch ein Problem lösen musste.
14:54 - Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Das war nicht so gemeint. Ich habe mich über jemand anderen geärgert und es an dir ausgelassen, das war unfair. Willst du heute Abend vorbeikommen, dann können wir drüber reden.
14:56 - Mach dir keine Gedanken, Mo. Vergeben und vergessen. Aber ich habe heute Abend was anderes vor, sorry. Vielleicht morgen.
Heute Abend würde ich mir für meine vielen, vielen Fragen persönlich Antworten einholen. Denn es fühlte sich komisch an, nach so einer Aktion wie gestern die Dinge per Handy lösen zu wollen.
Ich erledigte also schnell meine Hausaufgaben, zog mir ein Shirt und eine Strickjacke an und machte mich auf den Weg.

Das Licht in Idris Zimmer war gedämmt doch durch das bläuliche Flackern erkannte ich, dass er Videospiele spielte.
Vorsicht klopfte ich an der Fensterscheibe und Idris starrte mich an als würde er einen Geist sehen.
"Was machst du hier?", staunte er während ich in sein Zimmer kletterte.
"Ich hatte mir eine bisschen freundlichere Begrüßung erhofft", grinste ich schräg und machte sein Zimmerlicht an.
"Ich habe dich nur nicht erwartet..."
"Wieso? Dachtest du ich würde dir jetzt aus dem Weg gehen? Da kennst du mich aber schlecht."
Etwas baff setzte sich Idris auf die Bettkante und starrte mich fast fassungslos an.
"Ich denke, ich hatte wirklich Angst, dass du nicht mehr mit mir reden wollen würdest."
Das war ja mal was. Idris, der unerschrockene Idris, hatte Angst. Der Idris der sich mit Nazis prügelte und von einer Fähre gesprungen war um einen Hund zu retten, hatte Angst davor, dass ich nicht mehr mit ihm reden würde. Aber ich konnte ihn verstehen. Meine größte Angst, wenn es sich um die Zukunft spielte, war auch, dass ich sie nicht mit Idris verbringen könnte.
"Schwachsinn, jetzt erst recht! Immerhin musst du mir erklären war das gestern war. Und jetzt, da ich nüchtern bin, kann ich das Ganze auch besser nachvollziehen."
Abschweifend sah Idris aus dem Fenster. Ganz offensichtlich wollte er etwas sagen, doch es fiel ihm schwer die Worte auszusprechen. Wahrscheinlich wollte er hundert Dinge auf einmal sagen und hielt nichts davon für passend. Ich war fast schon beeindruckt von mir, denn es war sehr schwer Idris sprachlos zu machen.
"Bist du homosexuell?", versuchte ich die Konversation anzuschieben.
"Ziemlich positiv."
"Wie lange?"
Daraufhin musste er zynisch auflachen.
"Wie lange? Vielleicht mein ganzes Leben. Was weiß ich schon?"
"Okay sorry, dumme Frage. Und du bist sicher, dass du schwul bist?"
Irritiert sah er mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an.
"Ich schlafe mit Männern also was sollte ich sonst sein?"
Idris schlief mit Männern. Okay, die Vorstellung war sehr neu für mich. Immerhin war Idris seit jeher ein Frauenschwarm. Er war derjenige gewesen, der fast wöchentlich einen Liebesbrief in seiner Schultasche gefunden hatte. Ich hatte bis jetzt immer angenommen, dass er keine Freundin hatte, weil er der Typ war, der nicht gebunden sein wollte. Durch sein Geständnis war die Sache aber auch sehr verständlich geworden. Dabei fiel mir auch glatt ein, dass ich ihn wirklich nie aktiv mit einer Frau hatte flirten sehen.
"Na wenn du auch mit Frauen schläfst könntest du bi sein. Kann ja noch viel passieren."
Zustimmend nickend sprang Idris auf und lief etwas verloren um mich herum durch den Raum.
"Ist ja auch scheiß egal, was ich bin. Wieso muss man immer alles benennen können? Ich habe es so satt in Schubladen gesteckt zu werden und ich werde ganz sicher nicht in die einer Schwuchtel gesteckt werden." Wütend hielt er inne.
"Der einzige Grund wieso ich nicht längst weggezogen bin, bist du. Mein Vater würde das was ich bin definitiv aus mir herausprügeln wollen. Und die ganze Schule würde mich nurnoch als Schwuchtel abstempeln. Weißt du wie scheiße das ist, wenn man einfach nur man selbst sein will aber deine ganze Umwelt drückt auf dich ein und stopft das in dich hinein weil sie es einfach nicht wissen wollen? Weil sie dich sonst verurteilen würden?"
Seine Augen waren gefüllt mit Wut und Verzweiflung, eine Seite die ich nicht oft an ihm sah. Zumindest die Verzweiflung. Betroffen schüttelte ich den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Es war unglaublich was in Idris all die Jahre hatte vorgehen müssen. Er hatte das alles so tief in sich hinein gefressen und noch nicht einmal mir hatte er sein Geheimnis anvertrauen können.
"Wieso hast du mir das alles nicht schon vorher gesagt?", sagte ich zuletzt mit gedämpfter Stimme.
"Ich weiß es nicht!", stöhnte er und ließ sich auf einen der Bürostühle fallen. "Wie gesagt, ich hatte Angst, dass du anders reagieren würdest. Vielleicht habe ich mich da aber auch nur zu sehr in etwas hinein gesteigert. Es tut ehrlich gesagt echt gut, dir das endlich mal sagen zu können. Danke."
Lächelnd antwortete ich: "Kein Ding. Du weißt, dass ich immer für dich da bin. Du bist mein Bruder."
Das Lächeln, dass er bis jetzt erwidert hatte fror beim letzten Satz ein.
"Jap", nickte er nur schnell und legte eine Hand in seinen Nacken. Verlegen blickte er zu Boden.
Konnte es sein, dass... Nein... Oder?
Aber er hatte mich geküsst. Ich spürte, dass die Situation etwas komisch wurde. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, da ich selbst keine Ahnung hatte, was ich wollte.
Ich wollte, dass Idris wieder glücklich war und zu dem Schwachkopf wurde, den ich kannte. Ich wollte ihn nicht leiden sehen doch ich hatte das Gefühl mit allem was ich sagen würde die Sache nurnoch zu verschlimmern.
"Okay... Also... Ich geh dann mal wieder. Oder willst du noch über etwas reden?", sagte ich und deutete zum Fenster.
Kurz wollte Idris den Kopf schütteln, hielt dann aber in seiner Bewegung inne, stand entschlossen auf und sah mir direkt in die Augen: "Wenn wir schon dabei sind, dann ja: Ich habe dich gestern aus einem Grund geküsst. Weil ich es wollte. Ich wollte dich küssen, Paul, und das seit mindestens zwei Jahren."

Just F(r)iendsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt