Kapitel 6: Wohin? Nur weit weg.

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Ungläubigkeit machte sich in mir breit. Meine Frau hatte etwas mit dieser Organisation zu tun. In der Akte war ein Steckbrief vorhanden, einschließlich des Fotos, und ein sehr knapper Lebenslauf. Nichts, was ich nicht schon gewusst hätte, nur ein Satz, der mich stutzig werden ließ. Trägerin des Exemplars 071. Mir blieb jedoch keine Zeit, über die Bedeutung dieser Zeile nachzudenken, denn der Namenlose hatte sich inzwischen daran gemacht, aus dem Fenster zu klettern. "Wenn du nicht willst, dass sie dich wieder einfangen, kommst du am Besten mit mir mit. Es ist deine Entscheidung." Ich überlegte nicht lange, riss das Foto meiner Frau aus der Akte heraus und steckte es in die hintere Hosentasche. Abhauen ist immerhin besser, als hier zu verrecken, auch wenn wir beide keine Ahnung hatten, wohin wir fliehen sollten.

"Entschuldigung, Mister?" In einer kleinen Tankstelle, irgendwo an einer selten befahrenen Straße, die ins Nirgendwo führte, stand ein kleines, dunkelhaariges Mädchen vor dem Tresen. Der ältere Mann an der Kasse hatte den gelangweilten Blick auf den kleinen Bildschirm des Fehrnsehers gerichtet, der ihm täglich dabei half, die quälend langsam vergehende Zeit zu überbrücken, wenn keine Kunden kamen. Selten verirrte sich jemand Fremdes in diese Gegend, und jeden, der den kleinen Laden betrat, hatte er schon mindestens tausend mal zuvor gesehen. Nichts außer Einsamkeit hatte dieser Ort zu bieten. "Können Sie mir bitte helfen? Mein Papa bekommt sein Auto nicht mehr an." Das Mädchen deutete nach draußen, wo der Vater des Kindes fluchend an seinem Fahrzeug hantierte. Vermutlich waren beide unterwegs zur nächsten größeren Stadt und kamen nicht aus diesem Ort, anders konnte er sich nicht erklären, dass er das Mädchen nie zuvor gesehen hatte.

Bei dem Blick, den das Mädchen aufgesetzt hatte, konnte er natürlich nicht nein sagen. Als er ihr nach draußen folgte, blickte ihm ein junger Mann entgegen. Seine Haut war so blass, als hätte er seit mehreren Tagen kein Sonnenlicht mehr gesehen. Seine Augenringe waren ebenfalls nicht zu übersehen. "Dieser verdammte Wagen! Ich muss wohl die Schlüssel verloren haben. Die Tür hat mein Kumpel noch so aufknacken können, aber jetzt bekommen wir den Motor nicht an!" Auf dem Rücksitz hockte eine weitere männliche Gestalt, die ein wenig muskulöser zu sein schien als der Erste. Insgesamt hatten beide eine ungesunde Hautfarbe und eine unheimliche Ausstrahlung. Der alte Mann schüttelte den Kopf. Er versuchte sich einzureden, dass er fremde Personen einfach nicht mehr gewohnt sei. Er machte sich daran, mit einigen speziellen Tricks den Motor anspringen zu lassen. Das Mädchen lächelte triumphierend. "Vielen Dank, Mann!" strahlte der Vater und klopfte ihm dankend auf die Schulter. "Keine Ursache, das kann jedem mal passieren." Mit diesen Worten kehrte er in seinen kleinen Laden zurück, während die Fremden rasch davonfuhren.

Entspannt ließ er seinen Blick wieder zum kleinen Bildschirm schweifen. Es kam eine neue Meldung über eine Organisation, die er nicht kannte. Irgendetwas wissenschaftliches mit Medizin oder so. Anscheinend hatte es einen Massenaufruhr gegeben, wodurch zwei der Insassen entkommen konnten. Man sollte auf jeden Fall vorsichtig sein und sich sofort melden, sobald man mit einem der Beiden in Kontakt getreten ist, da unklar ist, in welcher gesundheitlichen Verfassung sie sich momentan befanden. Als er die Fotos erblickte, blieb ihm die Luft weg. Hatte der Typ von vorhin nicht genau die selben Augenringe gehabt? Und zufällig noch die gleiche Frisur??

Und warum haben sie das Mädchen nicht mehr mitgenommen? Warum steht sie jetzt alleine am Straßenrand, mit einem Lolly und einem Geldschein in der Hand?!


"JAAAAA!!! Wir haben es geschafft!" Mein Kumpel reckte die Fäuste in die Luft. Ich grinste. Wir befanden uns nun auf dem Weg ins weite Nirgendwo, wo uns keiner finden konnte, wo wir ein neues Leben beginnen konnten. Es war zu einfach gewesen, das Auto aufzuknacken und das kleine Mädchen zu bestechen. Wie hieß sie nochmal... Lina? Rina? Irgendwie sowas. Jedenfalls hätten wir es ohne ihre Überzeugungskraft nie geschafft. "Beruhige dich, Alter! Es sind nicht einmal zehn Minuten vergangen und du gehst mir jetzt schon auf die Nerven." lachte ich. Seine Freude machte auch mir ein wenig gute Laune. "Ich bin noch nie in einem Auto gefahren, haha!" tönte es vom Rücksitz, woraufhin ein heftiger Windstoß folgte. "Mach die Tür zu, du Depp!" schrie ich ihn an. Immerhin fuhr ich hier sowieso schneller, als erlaubt war. In Zukunft werde ich die Kindersicherung betätigen, wenn ich mit diesem Verrückten unterwegs war.

Nach nicht einmal zwei Stunden, in denen ich einfach nur geradeaus gefahren bin, mussten wir schließlich eine kleine Pause einlegen, da ich mir Sorgen machte, er würde mir den Rücken vollkotzen. "Mir ist so schlecht! Wie kann man Autofahren nur aushalten?" stöhnte er schwach hinter mir. "Eben noch hat es dir Spaß gemacht." Ich hielt am Straßenrand, vor einem kleinen Pub.

Ich hoffte sehr, dass uns das Glück auch weiterhin begleiten würde, doch ich ahnte nicht, was uns in naher Zukunft bevorstehen würde.


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