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Was auch immer ich tat, wo auch immer ich war, aus einem für mich unerklärlichen Grund konnte ich den ganzen Tag lang nicht aufhören, an das Mädchen mit den roten Haaren zu denken.
Ich sah sie vor mir, als ich endlich im fortgeschrittenen Englischkurs saß, der von einem überaus hochgewachsenen Mann mit einschläfender, monotoner Stimme unterrichtet wurde und mir, trotz der Blicke, die sich in unregelmäßigen Abständen zu mir richteten, beinahe die Augen zufielen.
Ich sah sie vor mir, als ich einige Stunden später im Klassenraum für Biologie saß und der untersetzte Lehrer Formeln an die Tafeln schrieb, die ich nicht verstand und mit Schülern sprach, die ich nicht kannte.
Ich sahe sie vor mir, als mein Geschichtslehrer einen schlechten Witz machte, die gesamte Klasse sich aber dazu verpflichtet fühlte, zu lachen, um nicht schlecht bewertet zu werden. Ich lachte nicht.
Auf den ersten Blick hatte sich der Schulalltag nicht besonders verändert, soweit ich das beurteilen konnte. Mein Zustand wurde als 'retrograde Amnesie' bezeichnet, was im Grunde bedeutete, dass ich mich an allgemeine und unpersönliche Dinge erinnern konnte, beispielsweise, wie man sich die Schuhe zuband oder Auto fuhr, also auch, wie das amerikanische Schulsystem funktionierte und ablief. Jedoch war ich wegen des Krankheitsbildes weder in der Lage, Menschen zu erkennen, die ich einmal als meine Eltern bezeichnet hatte noch, mich daran zu erinnern, wem ich meinen ersten Kuss zu verdanken hatte. Falls ich schon einmal geküsst worden war.
Das war mein Problem: Das kleine Viech, das sich in mein Hirn eingeschlichen hatte und alle meine persönlichen Erinnerungen, alles, wozu ich eine Bindung gehabt hatte, ausgelöscht hatte. Dieses kleine Viech war dafür verantwortlich, dass meine Mutter jeden Morgen mit verweinten Augen aus dem Bett kam, es war dafür verantwortlich, dass ich mir manchmal wünschte, alle Menschen um mich herum hätten mich auch vergessen, als wäre ich wirklich niemals dagewesen, als hätte ich wirklich niemals existiert, um ihnen den Schmerz zu nehmen
Es war für meine ständigen Kopfschmerzen und für meine zitternden Hände verantwortlich, es hasste mich so sehr, wie ich es auch hasste. Vielleicht sogar ein bisschen mehr.
Und in diesem Moment, während ich im Spanischunterricht saß und mein Kopf drohte zu platzen, während ich meine Lippen zerkaute, da wünschte ich mir noch viel stärker als jemals zuvor, ich würde mich an die 17 Jahre meines Lebens erinnern, die mir gestohlen worden waren.
Denn ich sah das Mädchen mit den roten Haaren vor mir.


°!-


Nach der Schule lag ich auf meinem Bett und starrte an die Decke.
Mein Rucksack war rücksichtslos auf meinen Schreibtischstuhl gepfeffert worden, meine Lektüre von "To Kill a Mockingbird" lag neben mir auf der weichen Matratze und ich hörte das Geräusch von Geschirr aus der Küche. Ich war zu müde, um aufzustehen und Christina beim Decken des Tisches zu helfen, aber zu wach, um einzuschlafen.
Ich hatte erwartet, von ein paar Leuten angesprochen zu werden. Ungewollte Aufmerksamkeit war mir zwar in Form von verstohlenen Blicken und geflüsterten Worten, die nicht an mich gerichtet gewesen waren, geschenkt worden, aber die einzige Konversation, die ich an diesem Tag geführt hatte, war mit dem sommersprossigen Mädchen gewesen. Das gab mir zu denken.
In den letzten Monaten hatte sich nie jemand bei mir gemeldet, was ich verstehen konnte. Vermutlich hatte niemand so recht gewusst, abgesehen von meinen Ärzten und meiner Familie, in was für einem Zustand ich mich befunden hatte. Deshalb hatte ich umso mehr erwartet, dass jemand in der Schule auf mich zukommen und mit mir reden würde, selbst, wenn es nur Smalltalk gewesen wäre.
Ich fragte mich zum ersten Mal, seitdem ich im Krankenhaus aufgewacht war, ob ich Freunde gehabt hatte. Richtige Freunde, mit denen ich meine Wochenenden verbracht, für Tests gepaukt und die Mittagspause in der Schule verbracht hatte.
Ich schloss für einen Moment die Augen. Noch nie zuvor hatte ich den Drang, mein Journal aus der Schreibtischschublade zu kramen, so stark wahrgenommen. Zum ersten Mal wollte ich wissen, wie mein Leben vorher gewesen war, welche Leute ich gekannt hatte und womit ich meine Zeit verbracht hatte. Ich wollte nicht der Freak sein, der sein Umfeld behandelte, als wäre er gerade in eine neue Stadt gezogen und der sein Lunch allein auf der Männertoilette mit eingesteckten Kopfhörern aß. Zum ersten Mal wollte ich normal sein, jemand, dem nicht von seinen Mitschülern verstohlene Blicke zugeworfen wurden, weil er Zeit im Krankenhaus verbracht hatte.
Meine Hände zitterten, als ich mich langsam von meinem Bett entfernte und vor dem Schreibtisch stehenblieb. Wie fast alles in meinem Zimmer war er schwarz gestrichen, unsauber, deswegen vermutete ich, dass ich ihm die Farbe verliehen hatte. Er war mit ungeordneten Blättern, Schulbüchern und alten Kaugummiverpackungen bedeckt und eine der drei Schubladen hing schief. Auf diese Schublade legte ich meine zitternden Finger. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Kraft besaß, sie aufzuziehen.
"Aaron, Liv?" Aus der Küche ertönte ein leises Scheppern und die Stimme von Paul. "Es gibt Essen."

Die Stille an dem kleinen Esstisch war drückend und meine Kopfschmerzen wurden wieder schlimmer. Meine Eltern sagten nichts, aßen nur still ihre Mahlzeit und tauschten gelegentlich Blicke aus, die ich nicht übersah. Ich vermutete, sie erwarteten von mir, dass ich ihnen von meinem Tag erzählte. Nach einer Weile sah meine Schwester von Paul zu Christina und dann zu mir, während sie kaute und die Gabel auf ihren halbleeren Teller legte.
"Ich habe heute mit Jareds Schwester geredet." Ihre Stimme klang wie immer seltsam erwachsen, obwohl sie mit ihren 11 Jahren erst seit kurzem die Junior High in Clayton besuchte und ich fragte mich oft, was später aus ihr werden würde. Trotz ihrer hohen blonden Zöpfe und den stets bemalten Händen konnte ich sie mir schon jetzt als Anwältin, Businessleiterin oder Collegeprofessorin vorstellen. Das einfache Leben einer Hausfrau passte nicht zu ihr.
Christina hielt inne und warf einen flüchtigen Blick zu mir. "Jareds Schwester?" Sie strich sich gedankenverloren eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem braunen Zopf gelöst hatte. "Wie hieß das Mädchen noch gleich?"

"Aubrey. Sie hat mich gefragt, ob Aaron bald wieder zur Schule geht." Bei der Erwähnung meines Namens hielt ich kurz inne, versuchte aber sofort wieder, so zu wirken, als ginge es mich nichts an. Ich stocherte in meinem Kartoffelgratin herum. "Aubrey meint, Jared habe schon lange nichts mehr über Aaron erzählt. Ihr kennt sie ja, sie macht sich immer Sorgen, egal ob Dinge sie  angehen oder nicht." Liv nahm ihre Gabel wieder auf und schien kurz zu überlegen. "Hat Jared dich heute angesprochen, Ron?"
Ich tat so, als müsste ich meine Kartoffeln zerkauen, während ich nachdachte, was ich antworten sollte. Sie würden sich Sorgen machen, wenn ich verneinen würde. Aber wenn ich sagen würde, dieser Jared hätte mit mir geredet, würde ich mich vermutlich zu schnell verstricken.
"Kurz, glaube ich. Er hat Hallo gesagt, nichts weiter." Ich erwähnte während des Essens nicht, dass ich mich heute nur mit einer einzigen Person unterhalten hatte und dass ich, davon mal abgesehen, nicht einmal wusste, wer Jared war.
Christina nickte, sah trotzdem ein bisschen besorgt aus. "Wahrscheinlich hatte er keine Zeit. Morgen könnt ihr vielleicht ein bisschen reden." Sie lächelte und nahm einen Schluck Wasser und obwohl sie versuchte, entspannt zu wirken, sah ich ihre Finger leicht zittern, als sie nach dem Glas griffen. Ich hasste es, dass es ihr so ging.




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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 05, 2017 ⏰

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