° 63 °

2.4K 198 89
                                    

Nico streicht liebevoll über meinen Rücken, als wir gesammelt das Flughafengebäude verlassen. Er läuft mit Sven hinter mir und Dennis und wirft mir tröstende Blicke zu. 

»Kommt ihr noch mit? Irgendwo was trinken gehen?«, fragt Bowen, der erstaunlicherweise auch sehr niedergeschlagen ist. Er ist sonst nicht so derjenige, der Gefühle zeigt. Oder es war ihm sonst wirklich immer alles egal. Keine Ahnung. Heute jedenfalls ist er  wie Dennis ziemlich ruhig.

Alle schauen einander an, murmeln durcheinander, doch eigentlich sind alle einer Meinung. Natürlich gehen wir jetzt noch etwas trinken. Wir landen in Kreuzberg in einer kleinen Bar, wo wir uns an einen der alten abgenutzten Holztische setzen.

Ich habe mich zwar mittlerweile beruhigt, doch bei dem kleinsten Gedanken daran, dass er weg ist, werde ich wieder traurig. Ich bin bescheuert, ich weiß.

Dennis sitzt mit mir auf einer Eckbank, links neben mir ist Nico und um den Tisch herum folgen Sven, Franzi und Bowen.

Anfangs sind wir still, doch als die zweite Runde Getränke an unseren Tisch kommt, wird es wieder etwas belebter. Dennis hält Körperkontakt, viel gesprochen hat er seit wir aus dem Flughafengebäude raus sind nicht. Er ist nachdenklich und es kommt mir vor, als wenn ihn etwas bedrückt.

»Was machst du jetzt eigentlich mit seinem Zimmer?«, fragt Franzi und stupst Sven frech von der Seite an. Er erschreckt sich und blickt zu Nico und dann wieder zu Franzi.

»Marc hat mich gebeten, es noch zwei, drei Monate für ihn so zu lassen. Danach wird er mir sagen, was ich damit machen soll. Entweder bleibt er drüben und ich werde mit ihm einen Transport organisieren, oder er kommt zurück. Aber da gehe ich nicht von aus. Es fühlt sich anders an, als beim ersten Mal«, spricht er nachdenklich zu Franzi, welche zum Verständnis nickt.

Ich lehne mich an Dennis' Brust und schließe meine Augen. Er lehnt sich zurück und streichelt immer wieder liebevoll zwischen meinem Kiefer und meinem Hals auf und ab, während er sich mit den anderen unterhält. Ich brauche einen Moment für meine Gedanken und die Geborgenheit, die Dennis mir gerade gibt tut mir sehr gut.

»Josie«, sagt Dennis nach einiger Zeit und stupst gegen meine Nase, legt seine Hand an meine Wange und streicht mit seinem Daumen unter meinem Auge entlang, während er vorsichtig meinen Kopf anhebt. Müde blinzele ich ihm entgegen, lächele weil er genauso müde und zerknautscht aussieht wie ich mich fühle.

Er gibt mir einen zärtlichen Kuss, schließt mich fest in seine Arme und küsst nochmals meine Schläfe. »Alles Gute zum Geburtstag, Häschen«, spricht er mit rauer Stimme, bevor er sich noch einen Kuss stiehlt und ich mich aufsetze. Und dann geht es die Reihe um, bis zum Schluss Sven sich neben mich setzt. Er zieht einen Umschlag aus seiner Umhängetasche und drückt ihn mir in die Hand. 

»Den soll ich dir geben«, sagt er lächelnd, gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lehnt sich abwartend zurück.

Schon an der Schrift erkenne ich, dass er von Marc ist und ziehe das Stück Papier mit zittrigen Fingern aus dem Umschlag. Das Papier ist bemalt, doch die Rückseite interessiert mich jetzt nicht. Ich möchte wissen, was er mir mitzuteilen hat und falte den Brief auseinander...

Hey Kleine,

ich weiß, was jetzt dein erster Gedanke ist: schon wieder ein Brief?! Aber ich wusste nicht, wie ich dir das alles sagen sollte, deshalb habe ich es aufgeschrieben. Auch war ich einfach zu wütend und jedes Gespräch wäre nicht gelaufen - für uns beide nicht.

Ich habe erst zu spät erkannt, dass ich dich mit meinem Verhalten verletze und ich brauchte, bis ich endlich ehrlich zu mir selbst sein konnte - Ich hatte mich in Carola verliebt, genauso wie du dich in meinen besten Freund verliebt hast. 

Die Erkenntnis hat mich wütend gemacht. Ich wollte es nicht wahr haben und habe dich und Dennis dafür gehasst - und mich selbst, weshalb ich den Kontakt zu euch abgebrochen habe. Es tut mir leid! 

Du kannst Sven gern fragen. Ich habe genauso gelitten. Ich vermisse dich ehrlich gesagt immer noch, doch es ist keine Liebe mehr. Ich vermisse deine Person, denn du bist ein toller Mensch, Josie und ich könnte mich jeden Tag aufs Neue ohrfeigen, dass ich dich letztes Jahr so sehr verletzt habe. Das hattest du nicht verdient. 

Umso mehr wünsche ich dir und Dennis eine tolle Zukunft. Auch wenn ich ihm immer noch eine rein drücken könnte, weiß ich, dass du keinen besseren finden würdest. Ich kenne diesen Jungen so lange und besser als jeden anderen auf der Welt. Er ist ehrlich, etwas, dass ich oft nicht war. Wohin uns das gebracht hat, habe ich schmerzlich erfahren müssen.

Aber trotz dem Ganzen, was zwischen uns passiert ist, oder gerade deswegen, möchte ich dir noch eine schöne Erinnerung geben und ich hoffe du erinnerst dich genauso gern und mit einem Schmunzeln daran, wie ich. Denn es war ein Abend, an den ich mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende mit einem Lächeln im Gesicht erinnern werde...

... dreh' das Blatt um!

Ich drehe das Blat und blicke auf mir bekannte Buchstaben in den Farben gelb, orange, weiß und pink. Sofort laufen mir wieder die Tränen, ein Schluchzen presst sich zwischen meinen Lippen hervor. Natürlich erinnere ich mich gern daran. Ich werde den Abend niemals vergessen, als er mich bemalte, mir den Schriftzug Pure Life unter meine Brüste pinselte und wir danach eine "Kopie" davon machten. Und jetzt schenkt er mir auch noch das Stück Papier, welches ich damals ausgesucht habe. 

Er hat eine Sünde begangen und die Seite aus seinem Blackbook gerissen - mir den Brief darauf geschrieben. Immer war er pingelig mit seinen Malbüchern, wie oft hat er Fussel und Bowen ermahnt, weil sie damit wie die Tiere umgegangen sind. Und jetzt macht er es selbst. 

Mit zitternden Fingern halte ich seine Zeichnung in der Hand und lese den kleinen Zusatz, den er dazu geschrieben hat: 

Höre niemals auf zu Lachen, denn dein Lachen ist wie das pure Leben. Marc.

Ich falte den Brief wieder zusammen, stecke ihn in den Umschlag. Mit feuchten Wangen blicke ich zu Sven, flüstere ihm ein "Danke" zu und nehme einen großen Schluck von meinem Bier.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Dennis und streicht über meinen Schenkel. Ich weiß er sieht mich nicht gern weinen, doch jetzt gerade kann ich - wie am Flughafen meine Tränen nicht steuern. Sie laufen einfach, weshalb ich nur nicke und meine Hand auf seine lege. Er ist einfach wunderbar, beugt sich zu mir vor, wischt mir mit einem Lächeln meine Tränen weg und setzt mir zärtliche kleine Küsse auf meinen Mundwinkel und mein Lippen. 

»War das ein Geschenk von Marc?«, fragt Dennis vorsichtig und deutet auf den Umschlag auf dem Tisch. Ich antworte mit einem Nicken und nehme noch einen Schluck Bier. 

»Was hat er dir geschenkt«, drugst Franzi neugierig, und rutscht auf ihrem Stuhl herum, während sie auf den Umschlag linst.

»Eine Erinnerung... eine schöne Erinnerung«, antworte ich nachdenklich und schmiege mich an Dennis, welcher gleich wieder den Arm um mich legt und meine Schläfe küsst, »Aber jetzt will ich nicht mehr der Vergangenheit hinterher rennen«, sage ich leise und blicke in seine blauen, liebevollen Augen, die mich glücklich anlächeln. »Ich blicke jetzt in meine Zukunft«.

ENDE

Falsch gedacht? [2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt