Part 9

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Plötzlich legten sich von hinten von links und rechts zwei starke Arme um mich und hielten mir einen brandneuen Teller unter die Nase. Dann hörte ich ein lautes Lachen an meinem Ohr und wusste gar nicht mehr, was los war. Als er sich wieder beruhigt hatte, kam Wes noch näher und flüsterte durch meine inzwischen trockenen Haare in mein Ohr.

„Du bist so süß! Wir haben hunderte von diesen Tellern. Das sind die billigsten, die du kriegen kannst. Cindy macht pro Woche mindestens einen kaputt, bei ihrer Tollpatschigkeit."

„Ist was passiert, ich habe ein lautes Scheppern gehört. Oh hi, ich wusste nicht, dass du Besuch hast, Wes." Das musste Wes Vater sein und die Position, in der wir hier saßen musste schon ziemlich eindeutig zweideutig aussehen. Deshalb löste ich Wes Arme von mir und stand auf, um mich vorzustellen, als Wes keine Anstalten machte, sich aufzurichten, oder mich loszulassen. Wie genau bin ich hier noch einmal gelandet?

„Hi, ich bin Emily. Ich komme bei mir zu Hause nicht mehr rein, weil ich meine Schlüssel vergessen habe und meine Eltern übers Wochenende weggefahren sind. Deshalb hat Wes mir angeboten, hier zu bleiben.", sagte ich während ich die Hand schüttelte, die er mir entgegenhielt. Ich hoffte inständig, keinen Splitter irgendwo hängen zu haben, den ich ihm dann wohl in die Hand gedrückt hätte. Ich hatte aber anscheinend Glück, weil der hochgewachsene dunkelhaarige Mann, den ich auf Mitte fünfzig schätzte, nicht so aussah, als würde ich ihn gerade verletzen. Im Gegenteil. Er strahlte ähnlich wie seine Frau bei meinem Anblick. Inzwischen hatte Wes sich wohl auch aufgerappelt, da ich seine große Hand auf meiner Schulter wahrnahm.

„Wir machen hier noch schnell sauber, dann sind wir weg.", sagte er, doch sein Vater hatte wohl keine Probleme mit meinem unangekündigten Besuch. Er strahlte mich weiterhin einfach nur an.

„Ich finde es immer wieder schön, jungen Besuch hier zu haben. Ich bin Thomas, Wes Vater. Du kannst ruhig du zu mir sagen." Mit einem letzten ungläubigen Lächeln verschwand er durch die Tür. Den Rest des Abwaschs erledigten wir schweigend, obwohl mir die ganze Zeit über eine Frage auf der Zunge lag. Erst als Wes seine Zimmertür hinter mir geschlossen hatte, schaffte ich es, sie auszusprechen.

„Warum starren mich eigentlich alle hier so an, als wäre ich das achte Weltwunder? Ist es denn so etwas außergewöhnliches, dass ihr Besuch habt?" Wes hatte mir gerade den Rücken zugewandt, da er sein Bett am machen war. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, als mir bei diesem Anblick einfiel, dass ich den Schlafsack in Cindys Zimmer einfach auf dem Boden hatte liegen gelassen. Weil Wes mir abgewandt stand, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Doch als er sich wieder zu mir umdrehte, war wieder dieses nervige Grinsen auf seinem Gesicht, das alle echten Emotionen verdeckte.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich sonst immer nur männlichen Besuch mitbringe und nur ganz selten Mädchen." Jetzt lachte er richtig. Offensichtlich wollte er vom Thema ablenken. Als er merkte, dass ich nicht mitlachte, was ich nicht tat, weil ich mir sicher war, dass seine Antwort nicht ehrlich gewesen war, hörte er auf damit und setzte sich auf sein Bett. Dann griff er nach der Gitarre, die ich schon letzte Nacht bei ihm gesehen hatte und legte sie sich auf den Schoß. Ich wusste nicht, was ich machen oder sagen sollte, weil er plötzlich so ruhig geworden war, ohne meine Frage vernünftig zu beantworten. Er lächelte mich leicht gequält an und begann dann zu spielen und zu singen. Da ich das Lied nicht kannte, ging ich davon aus, dass er es selber geschrieben haben musste. Als das Lied zu Ende war, legte er die Gitarre beiseite und ich applaudierte. Mir wurde wieder ganz warm im Gesicht, ich setzte mich jedoch trotzdem neben ihn auf die Bettkante, als er mich zu sich hin winkte.

„Wow! Du singst richtig gut! Wo hast du das denn gelernt?", fragte ich immer noch ungläubig.

„Nirgendwo.", lautete seine knappe Antwort. Hatte ich schon wieder eine falsche Frage gestellt? Er schien wieder in seinen Gedanken zu versinken.

„Du kannst aber auch extrem gut Gitarre spielen. Ich wollte das schon immer mal können. Aber leider hatte ich immer nur Klavierunterricht.", sagte ich und mir war bewusst, dass ich einfach nur dumm vor mich herplapperte, weil ich die seltsame Stille durchbrechen wollte, die plötzlich entstanden war. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, Gitarre zu spielen. Ich war eigentlich ganz zufrieden mit meinem Klavier.

„Ich kann's dir beibringen. Hier nimm." Er legte mir die Gitarre auf den Schoß, was sich verdammt ungewohnt anfühlte. Dann setzte er sich hinter mich und legte meine Hand so auf die Saiten, dass ich einige mit den Fingern hinunterdrückte. Dann legte er seine Hand genau auf meine Finger und schlug mit der anderen Hand in die Saiten. Ein klarer Akkord erklang. Er sortierte meine Finger neu und schlug wieder in die Saiten. Ein anderer Akkord war nun zu hören. Ich drehte mich zu ihm um und lächelte ihn an, weil ich mal wieder meine Stimme verloren zu haben schien.

„Gar nicht so schwer, oder?", er zwinkerte mir zu und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die er mir hinters Ohr steckte. Ich war jetzt ganz ruhig geworden und man konnte unser beider Atem hören. Doch plötzlich war der Moment vorbei und Wes kramte wieder sein altes lässiges Grinsen aus. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich in dem einen Moment so etwas wie Trauer oder Schmerz in seinen Gesichtszügen hatte aufblitzen sehen.

„Pass auf, ich zeige dir jetzt wie du die Akkorde selber spielen kannst und dann kannst du damit immer alle Leute nerven.", sagte er lachend und legte wieder seine Arme so, dass er meine Hände richtig auf die Saiten legen konnte. Für ihn schien alles wieder normal zu sein. Vielleicht hatte er den Moment auch gar nicht wahrgenommen. Und doch war ich davon überzeugt, dass da mehr war hinter seiner grinsenden frechen Fassade.

Looking For MyselfWhere stories live. Discover now