Ich saß auf einem freien Sitz, den ich ergattert hatte. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, doch mein angespannter Körper konnte sich selbst jetzt kein bisschen entspannen. Wie denn auch? Alles ging hoch und runter, meine Gedanken hatten aufgegeben und sich vollkommen abgeschalten. Meine Gefühle waren das reinste Chaos und ich wusste nicht mehr, was echt war und was ich mir nur einbildete.
Namjoon. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Er hatte mich verlassen, meine Mutter und mich im Stich gelassen und sich kein einziges Mal gemeldet. Dabei war er berühmt geworden und führte ein schönes Leben. Aber uns hatte er einfach bei meinem Vater zurück gelassen.
Und Danbi. Dieser Kuss. Dieses Liebesgeständnis. Was sollte ich dazu sagen? Ich wusste selber nicht, warum ich erwidert hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich das selbe wie sie empfand. Vielleicht wollte ich sie nur nicht verletzen.
Seufzend legte ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Er pochte vor Überanstrengung.
Die Straßen mit den Autos, die Gebäude, alles zog an mir vorbei. Wenn das die Geschehnisse nur auch könnten. Kurz da sein und dann hinter einem verschwinden. Sie sollten verschwimmen, zu unkenntlichen Farbklecksen mutieren. Vergessen. Das war alles, was ich wollte. War es zu viel verlangt?
Tränen der Verzweiflung brannten in meinen Augen, aber sie verließen diese nicht.
"Warum ist ein junges Mädchen wie du, das noch sein ganzes Leben vor sich hat so betrübt?", fragte eine Frauenstimme und erschrocken wandte ich den Blick vom Fenster ab. Es war eine alte Dame mit grauem Haar. Sie hatte es zu einem strengen Dutt gebunden, der ihre elegante Kleidung und Erscheinung unterstrich. Trotz ihrer augenscheinlich perfekten Haut waren um ihre Augen herum bei genauerem Hinsehen kleine Fältchen zu entdecken.
"Kompliziert", gab ich eingeschüchtert zurück. Diese Dame sah aus wie eine lebenslange Geschäftsfrau, die kein Nein von anderen duldete.
"Es ist eine lange Zugfahrt", entgegnete sie und blickte mich auffordernd an, ehe sie sich ohne zu fragen auf den Platz gegenüber niederließ.
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte um ihr klar zu machen, dass ich nicht mit einer Fremden darüber reden wollte.
"Och, versteh schon. Du hältst mich für alt, aber glaub mir, ich war auch mal jung. Zwar ist das Jahrzehnte her, doch ich erinnere mich noch an jeden einzelnen Tag", fing sie an zu schwärmen und unwillkürlich musste ich an eine jüngere Version von ihr denken. Eine komische Vorstellung.
"Ach komm schon. In meinem Leben fehlt seit Jahren die Spannung. Ist es so verwerflich, dass ich mich für ein noch frisches und von Abenteuern geprägtes Leben interessiere?"
"Nein. Aber Abenteuer kann ich ihnen leider nicht bieten", erklärte ich und schaute auf meine ineinander gefalteten Hände.
"Liebesprobleme, nicht wahr? Ja, die hatte ich in meinen jungen Jahren auch zu genüge. Das wird sich wohl in egal welcher Generation niemals ändern."
Ich hob den Blick und sah sie direkt an. Ich seufzte: "Es ist viel verwirrender als sie sich jemals vorstellen könnten."
"Keine Sorge, auch wenn ich alt aussehe, mein Hirn ist noch ganz schön auf Zack. Du wirst überrascht sein."
Zur Verdeutlichung beugte sie sich gespannt vor. Ich hatte keine Kraft, um weiter auszuweichen oder mit der Frau zu diskutieren. Deshalb gab ich erschöpft auf und begann die ganze Geschichte Revue passieren zu lassen."Holla Kindchen, diese Geschichte klingt fast schon ausgedacht. Sie wäre eine gute Vorlage für einen Film", bemerkte Frau Cho und schüttelte ungläubig den Kopf.
Ich zuckte mit den Schultern: "Leider hilft mir das nicht weiter."
"Ich weiß, ich weiß. Eine ziemlich verzwickte Lage. Aber denkst du, dass weglaufen die beste Lösung in deiner Situation ist?"
Sie hatte damit einen wunden Punkt getroffen. Schon die ganze Zeit fragte ich mich, ob ich richtig handelte.
"Also nicht", las die Dame meine Gedanken, "Hm, was machen wir da am besten? Ah, du besitzt doch bestimmt ein Handy oder?"
Bestätigend nickte ich.
"Hast du schon einmal drauf geschaut?"
"Nein, wieso sollte ich?"
"Weil manchmal bestimmte Worte alles ändern können. Vielleicht ist es bei dir genauso."
"Was sollten Ausreden schon verändern?"
"Warum denn Ausreden?"
"Weil das das sein wird, was ich auf meinem Handy in einer großen Zahl finden werde."
"Was macht dich da so sicher? Warum erwartest du von den Menschen, die dich lieben so etwas?"
"Weil,... ich weiß es nicht."
"Weil du so reagieren würdest?"
"Nein, ich, ich... ja, womöglich", gab ich traurig zu. Ich erwartete nie mehr, als ich selber geben würde. Die Enttäuschungen wären nur noch zahlreicher.
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Don't lie
FanfictionEin Mädchen mit einer Vergangenheit, die keiner außer ihr kennt. Ein Mann mit einer Verbindung zu einem Mädchen, das davon nichts weiß. Ein kompliziertes Leben, das einige Geheimnisse und Lügen in sich birgt. Eine große Lüge, die alles zerstören kön...