Über den White Pass

3 0 0
                                    


Nach kurzem, unruhigen Schlaf macht Clay sich fertig. Die acht Indianer stehen um fünf Uhr morgens schon vor dem Haus. Mit gemischten Gefühlen verabschiedet sich Clay von Betty. Sie küsst ihn immer wieder und hat trotz ihrer Beherrschung Tränen in den Augen. Clay kann kaum mit dieser Situation umgehen. Mannhaft unterdrückt er seine Gefühle und schiebt Betty sanft, aber bestimmt von sich. Auch er hat einen Kloß im Hals, will sich aber nichts anmerken lassen. Henry nimmt Betty in den Arm und führt sie ins Haus. Clay und seine Begleiter packen die Ausrüstung und wuchten sie sich auf den Rücken. Die Indianer sind wahrlich starke, ausdauernde Träger. Sie sind es gewohnt schwere Lasten über weite Strecken zu transportieren. Und sie lassen sich ihre Arbeit von den Goldhungrigen gut bezahlen.

Es ist der 20. Mai, als sie losmarschieren. Sie schlagen einen Bogen um die Stadt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Erst weiter östlich stoßen sie auf den Trail. Schon von Weitem hören sie die Geräusche der trampelnden, fluchenden und stöhnenden Masse der Männer. Die sich wie eine endlos windende Schlange den Weg hinauf zum Pass bahnt. Dazwischen das Wiehern und Schnauben der Pferde, die schwer bepackt und ohne Rücksicht nach vorne getrieben werden. Sogar Alaskan Malamuts – Schlittenhunde von starkem Körperbau – werden als Träger eingesetzt. Denn nach einem Gerücht kann man den Pass mit Tragtieren überqueren. Doch die Tiere versinken im Schnee, brechen sich die Knöchel, ersaufen in dem eiskalten Fluss oder bleiben gestürzt mit zerschmettertem Knochen in den tückischen Felsspalten liegen, verlassen von ihren Besitzern. Vielen ist ihr Tragtier noch nicht einmal eine Patrone wert.

Etwa 3.000 Pferde werden am White Pass sterben, Ochsen, Ziegen und Hunde werden erst gar nicht gezählt. Und niemand zählt die Verluste unter den Goldgräbern. Denn von den ca. 4.000, die den Pass zu überqueren versuchen, lassen schon Hunderte ihr Leben im Eis des Küstengebirges. Hier unten, kurz hinter der Stadt, ist es noch vergleichsweise flach und eben. Doch stetig wird der Weg steiler und steiniger. Zwischendurch wieder Flächen, in denen man tief im Schlamm versinkt. Jetzt im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, ist alles aufgeweicht und der Skagway River führt Hochwasser. Das Rauschen des Wassers ist ständiger Begleiter der drängenden, sich rücksichtslos nach vorne schiebenden Menschenkette. Auch Clay und seine Begleiter stapfen unermüdlich vorwärts. Ab und an bleibt ihr Führer „Black Horse Charly" stehen und wartet, bis die anderen aufgeschlossen haben. Eine Explosion auf der anderen Seite über dem Skagway River lässt erkennen, das man wirklich mit dem Bau der Eisenbahn begonnen hat. Tausende Arbeiter sind jetzt damit beschäftigt, eine Trasse durch das unwegsame Gebiet im Norden zu schlagen. Mit Schwarzpulver, Hacke und Schaufel, geht man den Felsen zu Leibe. Clay Morgan wünscht sich jetzt sehnlichst, dass die Bahn schon fertig wäre und sie bequem und ohne Mühe über den White Pass fahren könnten. Doch sie müssen weiter. Sich wie die Anderen über Felsen und durch Schlamm ihren Weg bahnen.

Bald wird die Last auf seinem Rücken unerträglich. War es anfangs noch verhältnismäßig leicht, drücken die fünfzig Kilo ihn jetzt mit brutaler Gewalt in die Knie. Solche schweren Lasten über Meilen zu schleppen, ist er nicht gewohnt. Er ist Cowboy und seine Arbeit erledigt er meistens zu Pferde. Schon bald schmerzen seine Arme. Der Rücken droht zu bersten. Seine gerade verheilten Rippen tun ihr Übriges, um ihn verzweifeln zu lassen. Was tut er sich hier eigentlich an? Er sucht kein Gold. Er will keinen schnellen Reichtum. Und er ist kein Irrer, wie die anderen hier. Die wie in Trance und nicht mehr sie selbst vorwärts stolpern, kriechen und wanken. „Zum Teufel mit alledem," denkt er und hadert mit sich selbst. Er verflucht diesen Berg und die Umstände, die ihn hierher geführt haben. Und noch liegen fünfzehn Meilen vor ihnen. Ein lautes Wiehern schreckt ihn aus seinen dumpfen Gedanken. Vor ihm bricht ein Pferd unter seiner Last zusammen. Angetrieben von Stock und Peitsche seines Besitzers, verlässt es die Kraft. Mit heraushängender Zunge liegt es am Rand des Pfades. Blut dringt in kleinen Bläschen aus seinen Nüstern. Und mit weit aufgerissenen Augen verendet es mit grotesken Zuckungen. Sein Besitzer sinkt kraftlos zu Boden. Sein starrer Blick ist ins Leere gerichtet. Für ihn ist die Reise beendet. Ungeachtet des Dramas stolpern die anderen an ihm vorbei. Beachten ihn keines Blickes. Treten auf das tote Tier und steigen ungerührt darüber hinweg. So wird der Kadaver immer weiter durch gnadenlose Stiefel in den tiefen Schlamm gedrückt.

Abrechnung im YukonWhere stories live. Discover now