Fragment 1 - Kapitel 4 - "Sie gehört mir!"

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Ein heller Aufschrei durchdringt den Saal.

Er klingt so schrill, dass die Fensterscheiben jeden Moment zerspringen könnten.

Er klingt schrill, laut, verzweifelt. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck springt Trenox buchstäblich auf. Die Hände fest an den Kopf gepresst, erfüllt sie den Raum mit lauter Stimme.

„Ich will nichts mehr hören!“, ruft sie immer wieder. „Ich habe genug von dem, was hier abläuft! Aufhören!“ Dabei schüttelt sie permanent ihren Kopf, als wolle sie erreichen, dass alles Skurrile um sie herum von ihr abfällt.

Aber ihre flehenden Worte erreichen die gewünschte Wirkung nicht. Im Gegenteil.

Sie sind das Zünglein an der Waage. Lilith kann nicht mit ansehen, wie Trenox darunter leidet, nichts zu verstehen. Sie scheint sogar so verzweifelt zu sein, dass die ersten Tränen in ihren Augen auftauchen. Das ruft wieder das Gefühl der zu Boden ziehenden Schlinge hervor. Leise und schleichend legt es sich um Liliths Hals. Es überkommt sie wie ein eisiger Schauer, der sie langsam zu Boden drücken will. Rammt ihr sachte einen Dolch ins Herz, der mit jedem Atemzug unheimlich sticht. Daher atmet Lilith kaum. Auch weil eine unbändige Wut ihr die Lunge zudrückt. Grimmig ruhen ihre violett schillernden Augen auf Raziel. Der Puppenspieler lacht genüsslich, da ihm die beklemmende Situation zu gefallen scheint. Plötzlich sieht Lilith keinen Sinn mehr darin, ihren Zorn beherrschen zu wollen. Denn dort oben auf der Bühne, dort steht Raziel. Der Puppenspieler, der Dinge preisgibt, die nicht für Trenox bestimmt sind…Dinge, die Trenox unnötig belasten…derjenige, der dafür sorgt, dass ein niederschlagendes Gefühl durch ihren, Liliths, Körper fährt. Sie ballt die Hände zu Fäusten, sodass die Finger ganz weiß werden. Den Blick weiterhin starr auf den Gegenüber gerichtet, beginnt die Umgebung um Lilith leicht zu vibrieren. Was ganz sanft anfängt, steigert sich beständig und geht letztlich in ein spürbares Beben über. Zitternd wagt Trenox einen vorsichtigen Blick zur plötzlichen Energiequelle und auch Raziels Gelächter verstummt. Während seine Marionette immer noch mit den Ärmchen rudert, um die Hypnose des Publikums aufrechtzuerhalten, betrachtet er erwartungsvoll, was sich vor seiner Bühne zuträgt. Zwei mittlerweile violett glühende Augen durchdringen ihn. Lilith, die wie ihre Umgebung, bebt, wirkt mit einem Mal bedrohlicher, als die, die sie noch vor wenigen Augenblicken war. Ihre Haare bewegen sich, als würde vom Boden her eine Brise aufkommen. Ihr Blick, starr. Die Luft um sie herum, jeden Moment explodierend. Dann registriert sie die entstandene Ruhe und die Aufmerksamkeit, welche auf ihr liegt.

Mit einem Mal scheint tatsächlich etwas zu explodieren.

Ein lauter Knall gefolgt von einer schreienden Stimme lässt Trenox zusammenzucken.

Es ist Lilith, die mit ungeheuerer Kraft abgesprungen ist. Ihre Wut entlädt sich und legt sich auch spürbar in die Worte, die sie gegen Raziel richtet: „Es ist alles deine Schuld!“ Der Sprung war so kraftvoll, dass Lilith förmlich vom Himmel herab auf den Puppenspieler zurast und ihn mit der ausgeholten Faust treffen will. „Hast du nun etwa Angst, weil ich deine Geheimnisse verraten habe?“, sagt dieser nur schnippisch. Im selben Moment hebt er langsam seinen Arm in Richtung Lilith. Die Hand wird geöffnet und im nächsten Moment zuckt nur noch ein gleißend roter Blitz durch den Saal.

Als Trenox ihre Augen wieder öffnet, dauert es zunächst einige Sekunden, bis sie wieder klar sehen kann. Die Umgebung erscheint zunächst verschwommen und sie muss sich die Augen reiben. Doch das erste was sie erkennt, lässt sie erneut zusammenzucken. Lilith liegt am Boden. Direkt vor der Bühne zu Raziels Füßen, der immer noch majestätisch schwebt. „Lilith!“, ruft Trenox. Einen Moment lang will sie zu ihr rennen, sie rütteln und nachsehen, ob sie verletzt ist, aber sogleich verschwindet der Gedanke wieder. Irgendetwas klebt an Liliths Körper. Stark leuchtende rote Linien. Blut? Nein, es ist nicht flüssig. Es hat sich um sie gewickelt wie eine Art Faden. Bei näherem Hinsehen erkennt Trenox, dass dieser Faden bis in Raziels Handfläche zurückführt, von wo er auch seinen Ursprung nimmt. Dieses sonderbare Bild lässt sie wieder verzweifeln. So etwas geht in der Realität doch gar nicht…

Fragmente eines WächtersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt