Kapitel 11.3

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Meine bisherigen Erkenntnisse waren heute leider nur sehr elementarer Natur: Meine Füße und Knie schmerzten, meine Hüfte ebenfalls und mein Herz vor Kummer sowieso. Außerdem war ich pleite, und es waren immer noch sechshundert Kilometer nach Santiago zu absolvieren, wie ein demotivierender Wegweiser behauptete. Das veranlasste mich, einige Hochrechnungen anzustellen, die eine ebenso desaströse Bilanz ergaben wie die Buchhaltung meiner Immobilienfirma:

A) Ich hatte etwa zweihundert Kilometer hinter mir. Das klang zwar nach viel, war aber erst ein Viertel der Gesamtstrecke. Also lagen noch drei Viertel des Caminos vor mir.

B) Wenn ich bis hierher acht Tage gebraucht hatte, standen mir noch immer vierundzwanzig anstrengende Tage bevor.

C) Bei einem Schnitt von acht Wanderstunden am Tag ergaben das weitere zweihundert mühsame Gehstunden bis Santiago.

Hatte ich vor wenigen Tagen die Wahrscheinlichkeit, den Jakobsweg in einem Durchlauf zu bezwingen, von zehn auf fünfzig Prozent hochgeschraubt, so senkte ich sie in der endlosen Weite dieser Steppe wieder auf zwanzig Prozent. Ich wäre ja auch nicht der Erste, der scheiterte, schließlich hatte ich von einigen gehört, die aufgegeben hatten, wie etwa ein amerikanisches Ehepaar in den Flitterwochen, denen der Weg doch nicht romantisch genug war. Oder Pilger mit so schlimmen Blasen und Entzündungen an den Füßen, dass sie kaum noch gehen konnten.

Nach einem Viertel der Strecke war die Euphorie des Neuen (»Hurra, ich gehe den Jakobsweg!«) längst verflogen und einem gewissen Pilgeralltag gewichen. Der Kopf wurde immer wichtiger, und mein Körper lief längst auf Autopilot. Ich durchwanderte ein mentales Azorentief und ahnte, dass ich umdenken musste, um für einen geistigen Wetterumschwung zu sorgen.

Der Begriff Geduld kam mir in den Sinn. Es war zwar empfehlenswert, sich hohe Ziele zu stecken und diese im Auge zu behalten, aber ich durfte nicht nur das Endziel Santiago im Visier haben. Ansonsten lief ich Gefahr zu verzweifeln, weil es bis dorthin noch unvorstellbar weit war. Zudem verstellte mir eine so starke Fokussierung den Blick auf die schönen kleinen Etappenerfolge.

Dies war für mich als Schriftsteller eine wichtige Erkenntnis. Denn auch in dieser Hinsicht hatte ich mir ein schier unerreichbares Ziel gesetzt. Mein literarisches Santiago hieß Spiegel–Bestseller–Liste. Dort wollte ich mit meinen Büchern landen, auch wenn es bis dahin ein langer, steiniger Weg war. Das Ziel schien in unendlicher Ferne zu liegen – trotz eines namhaften Verlags im Rücken und dem Beifall meiner Leser. Das würgte meine Motivation ab und war der Grund, warum ich seit einem Jahr keine Zeile mehr geschrieben hatte. Ich stand kurz davor aufzugeben.

Dass ich im Hinblick auf meine literarische Karriere ebenfalls nur das große Endziel vor Augen hatte und es so schnell wie möglich erreichen wollte, war eine weitere Parallele zum Jakobsweg. Vielleicht würde ich auch mit den Büchern mein gestecktes Ziel erreichen – aber womöglich hatte ich auch dort erst ein Viertel der Wegstrecke geschafft.

Diese Theorie verschaffte mir ganz neue Motivation. Ich musste in Etappen denken. Heute waren es noch acht Kilometer bis zum Ziel. Die würde ich locker schaffen. Aber ob ich mich zu Hause überwinden konnte, einen weiteren Kriminalroman von vierhundert Seiten zu schreiben? Ich bezweifelte es. Doch dann fiel mir ein, dass ich mir durchaus vorstellen konnte, an fünf Tagen pro Woche je fünf Seiten zu schreiben. Und damit wäre der vierte Roman in nur vier Monaten fertig.

Und wieder hatte mich der Camino etwas für das Leben gelehrt: Motivation war eine Sache der großen Ziele und der kleinen Schritte auf dem Weg dorthin – und der Freude an den kleinen Etappenerfolgen.

Ich beschloss, meiner Leidenschaft zu folgen und auch weiterhin Bücher zu schreiben – egal was am Ende dabei herauskäme. Gleich nach meiner Rückkehr würde ich wieder mit dem Schreiben beginnen. Mit meinem verzogen sich die Gewitterwolken in meinem Kopf und wichen dem Hoch Eduard, das hoffentlich noch einige Tage anhalten würde. Dieser Entschluss musste heute Abend gebührend gefeiert werden. Aber brauchte es dazu nicht Alkohol?

Ein verdammter Teufelskreis.


Wie ich vom Weg abkam, um nicht auf der Strecke zu bleibenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt