|Kapitel 32 - Countdown|

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Die Zeit läuft immer weiter. Sie ist das einzige Beständige im Leben eines jeden Menschen und doch geht sie uns immer mehr aus. Mit jeder verstrichenen Sekunde nähern wir uns ein Stückchen weiter unserem Lebensende. Die strahlende Jugend verblasst und weicht der trüben Erkenntnis des Alters, bis uns der Tod holt. Wann uns dieser ereilt mag zwar im Ungewissen liegen, doch das gleichmäßige Ticken des Sekundenzeigers lässt uns doch die Endlichkeit unseres Seins spüren. Aber gerade diese zeitliche Begrenzung ist es doch, die unserem Leben einen Sinn verleiht, nicht? Denn was würde bleiben, wenn uns allen die Ewigkeit vergönnt wäre?

Nichts. Unsere ganze Existenz wäre wertlos. Wir würden nicht mehr jeden Tag aufstehen, da uns unendlich viele zur Verfügung stehen würden. Es wäre bedeutungslos heute zu kämpfen, wenn dieser Kampf auch tausend Jahre später ausgetragen werden könnte. Unser Leben wäre ein kleiner Punkt in einem nicht enden wollenden Wirbel aus Schwarz.

Das Gegenteil würde passieren, wenn wir uns heute schon unserem Todestag bewusst wären. Die Gewissheit nichts gegen unser Ableben tun zu können, würde uns zum Handeln zwingen. Wir würden ab da an jeden Tag nutzen. Die Luft würde anders riechen. Der Geschmack des Wassers würde uns erstmalig bewusst werden. Nichts wäre mehr selbstverständlich.
Ich muss meinen Todestag nicht kennen, um zu handeln und jeden Tag zu nutzen. Mir bleibt gar keine andere Wahl. Leben oder Sterben. Heute Nacht wird sich alles entscheiden. Heute Nacht werden wir unseren Plan umsetzen. Der Countdown hat längst begonnen.

Ich spähe unter mein Bett und ziehe die von Ryan angebrachte Taschenpistole hervor – ein Modell, welches es gar nicht mehr geben dürfte. Mit gezielten Griff überprüfe ich das Magazin der Springfield Armory 911, sichere sie und verstaue sie dann mit einer Notiz in der inneren Tasche meines Blazers. Die Waffe ist leicht und unter dem Stoff nicht auszumachen. Solange niemand gegen mich stößt, fällt sie nicht auf. Ich streiche die bordeaux-rote Jacke glatt und zupfe sie etwas zurecht.

Keine Sekunde zu früh, denn schon klopft es an meine Tür und Raphael steckt seinen Kopf herein. Ich erwidere sein Lächeln und hoffe das es nicht zu gezwungen wirkt.
»Du siehst bezaubernd aus«, schmeichelt mir mein Vater und bietet mir galant seinen Arm an.
»Danke.« Ich folge ihm, auch wenn es mir eigentlich widerstrebt. In den verspiegelten Wänden des Fahrstuhls sieht mir eine Fremde entgegen. Sie trägt eine dicke Schicht Make-Up und ihre dunkelbraunen Haare hat man gelockt und einen Teil kunstvoll hochgesteckt. Ihre Nägel sind kurz geschnitten und passend zu ihrem Lippenstift lackiert. Scheiße, selbst die sichtbaren Blutergüsse und Schürfwunden hat man abgedeckt. Nicht eine Unreinheit ist zu sehen, fast so, als wäre sie aus Stein gemeißelt.

Über zwei Stunden haben die Frauen gebraucht, um sie so herzurichten, die Fremde, die ihre blutroten Lippen fest zusammengepresst hat und mich ausdruckslos mustert. Doch selbst diese Profis haben es nicht geschafft, den harten Zug um ihren Mund zu kaschieren und die Wut aus ihrem Blick zu tilgen. In ihren grauen Augen tobt ein vernichtender Sturm, der alles und jeden mitzureißen droht. Ich lächle unwillkürlich und auch die Frau verzieht ihre Lippen. Es ist ein grausames Lächeln.
Es braucht einen Moment bis ich mich wiedererkenne. Erkenne, dass ich diese unbarmherzige Frau bin.

Raphael, dem mein Spiegelbild nicht entgangen ist, legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sie leicht. Fragend drehe ich mich zu ihm herum und bemerke, dass gleiche kalte Lächeln in seinem Gesicht, das kurz zuvor noch in meinem gelegen hat. Mich überläuft ein kalter Schauer, doch ich lasse es mir nicht anmerken.
»Ich weiß, dass das nicht der passende Augenblick ist, um dich jetzt danach zu fragen«, beginnt er und drückt mit der anderen Hand auf einen der vielen Knöpfe. Der mit Nummer 1 leuchtet orange auf und der Aufzug setzt sich geschmeidig in Bewegung. »Du bist vermutlich nervös und noch durcheinander von den vielen neuen Eindrücken. Ich verstehe das, weshalb du mir auch nicht sofort antworten musst. Du hast Zeit genug es dir in Ruhe zu überlegen.«

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