Numbness

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Ich schließe die Haustür hinter mir und renne die Treppe hoch. Es ist kalt draußen und es schneit schon den ganzen Tag. Ich liebe den Winter. Weil es schon früh dunkel wird und fast niemand auf den Straßen ist. Ich mag es, wenn es still ist.

Ich bleibe vor unserer Wohnungstür stehen, fische meine Schlüssel aus der Hosentasche und schließe auf. Geräuschvoll werfe ich die Tür ins Schloss, ziehe meine Schuhe im Flur aus und winde mich aus meiner Jacke, die ich achtlos auf die Treppe werfe. Ich seufze tief und öffne die Tür, die zu unserer Küche führt. „Lorena?“, ruft meine Mutter aus dem Badezimmer. „Bist du das ?“                                                         Ich spare mir die Antwort. Blöde Frage. Außer mir kommt doch niemand so spät nach Hause. Ich rieche den Duft des wartenden Essens und setze mich an den Küchentisch.  Das Essen steht schon fertig auf dem Tisch. Spaghetti mit Tomatensoße. Mal wieder. Ich gehe zum Kühlschrank, schnappe mir Milch und etwas Käse und schütte beides in Mengen über den Berg mit Nudeln. Pure Tomatensoße mochte ich noch nie gerne. Seit ich mich erinnern kann verdünne ich sie mit Milch und esse dazu Streukäse. In aller Eile schlinge ich das Essen herunter und will mir gerade meine Tasche schnappen, als meine Mutter durch die Tür kommt und auf den Stuhl zeigt.

„ Wir müssen reden Lorena.“ Oh nein. Ich hatte noch auf einen Tag Schonfrist gehofft, aber der Brief scheint heute schon angekommen zu sein. Ich schnaufe, setze mich und warte. Nach einer Weile hat sie immer noch nichts gesagt und ich schaue von der Tischplatte auf, wobei ich ursprünglich Blickkontakt vermeiden wollte. Meine Mutter starrt mich mit erhobenen Augenbrauen an und scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage. Wahrscheinlich, dass ich mich rechtfertige und ihr sage, dass es nicht meine Schuld sei und mich die Lehrer alle einfach nicht leiden könnten. Doch ich schweige, schaue wieder auf den Tisch und kratze mit dem Fingernagel einen nicht existierenden Fleck vom Holz.Wenn sie nicht in der nächsten Minute mit ihrer Predigt anfängt, gehe ich. Meiner Meinung nach sitze ich sowieso schon wieder viel zu lange hier und verschwende meine Zeit mit überflüssigen Gesprächen, die eigentlich gar keine sind und deshalb noch viel überfluessiger.

Ich schaue meine Mutter an. Sie sieht fertig aus. Die langen Stunden im Krankenhaus setzen ihr zu, genauso wie der Stress hier, der jeden Tag von neuem beginnt. Die tiefen Falten und die eingefallenen Wangen lassen sie mindestens zehn Jahre älter aussehen. Dabei ist sie eigentlich relativ jung mit ihren 40 Jahren, dafür dass sie drei Kinder hat, wovon eines schon erwachsen und ausgezogen ist. Ich bin mit meinen siebzehn die zweitälteste und Svenja, meine kleine Schwester ist gerade dreizehn geworden.

Wir leben zu dritt in einer kleinen Wohnung am Stadtrand seit mein Vater vor drei Jahren mit Sack und Pack abgehauen ist. Seitdem kämpfen wir um jeden Cent. Mein "Erzeuger" wie ich ihn seitdem nur noch nenne, bezahlt zwar Unterhalt, doch auch nur den mindesten und der reicht nicht, um bis zum Ende des Monats um die Runden zu kommen. Meine Mutter hat also ihren Teilzeitjob aufgegeben und arbeitet nun ganztags als Krankenschwester, damit wir wenigstens das Geld für die Miete bezahlen können. Vor allem die Nachtschichten rauben ihr die Kraft, aber wir versuchen sie zu unterstützen, wo wir nur können.

Die Aufgabe meiner Schwester und mir ist es, uns um den Großteil der Hausarbeit zu kümmern, die Mama in ihrer freien Zeit nicht schafft. Außerdem sorge ich dafür, dass Svenja mit ihrer Matheschwäche das Schuljahr besteht und frage sie häufig abends nochmal ab.

Ich selbst komme meistens auch erst später von der Schule nach Hause. Vor zwei Jahren habe ich auf ein, mit dem Bus etwa einstündig entferntes Gymnasium gewechselt und brauche dementsprechend etwas länger als meine Schwester, die auf die Realschule drei Straßen weiter geht.

Meine Gedanken werden von einem Räuspern unterbrochen. Na endlich!

"Was ist nur  mit dir los? " Ich löse meinen Blick von ihrem Gesicht und blicke uninteressiert durch die Gegend. Die Küchenschränke müssten dringend wieder abgestaubt werden, genauso wie die Lampe, die schon seit Ewigkeiten keinen nassen Lappen mehr gesehen zu haben scheint.

Mein Blick bleibt an der Küchenuhr hängen. Mit Erschrecken nehme ich die blauen Ziffern wahr. 17:35 Uhr. Vor spätestens fünf Minuten hätte ich oben sein sollen. Ich hätte meinen Laptop hochgefahren, mich in den Chat eingeloggt und er wäre wieder da gewesen.

Fabio. Der Junge mit dem ich schon seit fast vier Monaten regelmäßig chatte. Er schrieb mich damals an, nachdem ich mich nach langer Zeit endlich getraut hatte ein Bild von mir hochzuladen. Zwei Minuten später wimmelte es nur so vor Chatanfragen,die, wie ich feststellte meist von Männern über 30 waren. Ich klickte mich durch einige Profile, bis ich an ihm hängen blieb. Ich verliebte mich sofort in sein Bild. Seinem Profil nach war er zwei Jahre älter als ich. Seine  schwarzen Haare trug er in hochgegelt. Eigentlich nicht mein Typ, jedoch faszinierten mich vor allem seine stechend hellblauen Augen. Gerade über legte ich, wie ich am besten auf min aufmerksam machen könnte, als ich sah, dass er mein Profil ebenfalls besuchte und zwei Sekunden später erhielt ich ein "Ich glaube ich habe mich gerade in dein Bild verliebt" Ich kicherte und antwortete ihm sofort mit einem "oh wie süß, dankesehr".

So entwickelte sich ein Gespräch, dass nie zu stocken drohte, auch wenn ich anfangs schüchtern war und nur einsilbig antwortete. Ihm fielen immer neue Fragen an mich ein und er brachte mich mit seiner sympathischen Art dazu, immer offener zu werden. So erzählte ich ihm von meinen Problemen in der Schule. Ich war dort seit knapp zwei Monaten ausgegrenzt worden, weil eine damalige Freundin von mir Lügen über mich rumerzählte. Ich nehme an, dass es daran lag, dass sie damals auf Fabrizio, einen großen und gutaussehenden Italiener stand, der jedoch anscheinend nichts für sie übrig hatte. Da wir ein paar Kurse zusammen hatten, traf ich mich eines Nachmittags mit ihm, da er mich gebeten hatte, mit ihm für eine Arbeit zu lernen, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Wir saßen draußen im Garten; in hatte eine Picknickdecke ausgelegt und ich fragte ihn gerade die benötigten Formeln ab, als er mich zu mir beugte und seine Lippen auf meine drückte. Ich war total überrumpelt und saß wie erstarrt da.

Als er sich von mir löste, nahm ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr, jedoch zog Fabrizio meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf sich, da er sich abermals zu mir beugte. Ich stand ruckartig auf und sagte ihm, dass er jetzt gehen müsse.

Sein Blick war unergründlich, als er ebenfalls aufstand und versuchte keine Hände in seine zu nehmen. Ich machte einen Schritt nach hinten und schüttelte den Kopf. Nun schien er zu verstehen, er hob sein Physikbuch auf und ging mit schnellen Schritten Richtung Gartentor. Als er sich ein letztes Mal umdrehte, wandte ich meinen Blick ab und ging ins Haus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 07, 2014 ⏰

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