Kapitel 4./1

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Die Tage laufen immer gleich ab. Dreimal am Tag gibt es Essen und Tee. Beides ist geschmacklos, aber warm. Die Zeit dazwischen vertreibe ich mir mit Erkundungstouren durch das Lager, aber meistens halte ich mich außerhalb der Menschengruppen auf. Ein paar Meter von dem Zaun entfernt, habe ich eine kahle Eiche gefunden, an deren Stamm gelehnt ich auf das weite, kahlgelegene Feld vor mir blicke. Ein Plastikteller mit dampfenden roten Bohnen und Reis liegt in meinem Schoß und ich nippe an einem Pappbecher Kräutertee.

"Nicht gerade der wärmste Platz fürs Mittagessen." Fast verschlucke ich mich an einer Gabel Reis. Caleb steht direkt neben mir. Trotz des schneebedeckten Bodens habe ihn nicht kommen hören. "Was?", frage ich überrascht. Caleb lacht leise. Er trägt einen Mundschutz, weshalb ich das kleine Grübchen nicht sehen kann. "In der Cafeteria stehen Wärmestrahler. Hier draußen ist es wirklich kalt", wiederholt er. Der junge Sanitäter reibt seine behandschuhten Hände aneinander und schiebt sie in die Jackentaschen. Ich zucke mit den Schultern. "Bin warm angezogen", erwidere ich und trinke einen Schluck Tee.

"Sind die Testergebnisse da?". frage ich ihn aufgeregt. Eigentlich hatte mir Caleb gesagt, dass die Auswertung eine Woche, wenn nicht sogar länger, dauert. Er schüttelt den Kopf.

"Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass-" "Schon gut", unterbricht er mich lachend, "Es ist schön, dass dir der Platz auch gefällt." Ich sehe ihn an und lächele. "Von hier kann man die Jeeps sehen, die zum Camp fahren. Sie kommen von allen Richtungen angefahren, mit Überlebenden auf den Rückbänken."

Ich erinnere mich an ein paar lang vergangene Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte. Die Fernsehsender strahlten sinnlose Vorkehrungsmaßnahmen in Dauerschleife aus, und die Zeitungen hatten aufgehört, Traueranzeigen abzudrucken. Mum war nicht mehr bei uns. Sicher würde es nicht mehr lange dauern, bis man auch Ash, Dad und mich in einen Leichenwagen hievte. Keiner von uns würde die Seuche überleben. So saß in meine Decke geschlungen und war mir sicher, dass das Ende der Menschheit eingetroffen war.

"Es gibt mir Hoffnung", flüstere ich.

Einem Moment sagen wir beide nichts mehr, doch Calebs Stirn hat sich in Falten gelegt. Als würde er überlegen, ob er mir etwas erzählen möchte, oder nicht. "Jedes Mal, wenn ich hier sitze, warte ich auf diesen einen Jeep", sagt er schließlich. "Dass er über das Feld fährt und sie endlich ins Camp bringt." "Wen?" "Meine Eltern, meinen Bruder." Bisher habe ich nie darüber nachgedacht, dass auch Caleb eine Familie hat. Natürlich muss er eine haben. "Es ist ein dummer Gedanke, aber er lässt mich nicht alle Hoffnung verlieren. Da haben wir wohl etwas gemeinsam." Ich wende meinen Blick zu dem Feld hinter dem Zaun. Es ist eine große, kahle Fläche in weiß. "Wieso sollte es ein dummer Gedanke sein?" Caleb fährt sich durch das Haar, doch die widerspenstigen dunklen Strähnen fallen ihm sofort wieder in die Stirn. "Weil sie tot sind." Ich schlucke. "Das tut mir Leid." Es ist das einzige, das mir in diesem Moment einfällt. "Wo hast du deinen Bruder gelassen?", fragt er um das Thema zu wechseln. Ich zucke mit den Schultern. Heute Morgen hat er das Zelt verlassen, bevor ich wach war. Ich vermute, dass er sich auf einer seiner Erkundungstouren durch das Camp befindet. "Wir waren die letzten Wochen ständig zusammen. Ich glaube, auch er braucht etwas Zeit für sich." Das nimmst du ihm doch nicht übel?" Ich schüttele den Kopf. Nach allem was passiert ist, brauchen wir beide etwas Zeit zum Nachdenken. Alleine." Es ist eine Menge Stoff, die einem so durch den Kopf geht. Habe ich Recht?" Ich nicke stumm. Oh ja, das ist es.

Bisher habe ich mir nur Gedanken darüber machen müssen, wann wir die nächste Mahlzeit bekommen. Ob sich Asher infiziert hat. Doch jetzt rasen die bisher verdrängten, schmerzhaften Gedanken auf mich zu und ich bin nicht bereit, wenn sie sich auf mich stürzen. Die ersten Tage sind einfach. Wenn man als Frischling ins Camp kommt, ist man von allem überwältigt. Das man es bis hierhin geschafft hat, das man wieder andere Menschen sieht. Man denkt nicht mehr" Caleb schiebt seine Hände in die Hosentaschen. Sein Blick wandert in die Ferne. Dann lebst du dich ein und wirst eine Menge Zeit haben, in der du nichts machen musst und dann. Das ist der Punkt, an dem dich alles einholt, und der Schmerz überrollt." In seiner Stimme klingt ein müder Unterton mit, an der ich merke, dass er diese Zeit schon hinter sich hat. Ich schlucke. Ich habe genug Zeit und früher oder später wird mich die Erinnerung an meine Eltern überrollen. Ihr Tod ist, was ich am stärksten zu verdrängen versuche. Wird es einfacher werden?", frage ich. Das nicht, aber du lernst damit zu leben."

Der Schnee knirscht unter unseren Stiefel, als wir uns auf den Weg zurück zu den Zelten machen. Meine Finger sind rot vor Kälte und der Tee ist mittlerweile kalt geworden. Ich trinke ihn im Gehen aus bevor ich den leeren Becher auf den Teller lege. Plötzlich bleibt Caleb stehen und sieht mich an. "Ich kenne deinen Namen überhaupt nicht", stellt er fest. Ich lächle und strecke ihm meine rechte Hand entgegen. "Ich bin Quinn Walker", stelle ich mich vor. Er ergreift meine Hand und schüttelt sie. "Caleb Harper. Schön dich kennenzulernen." Obwohl er Handschuhe trägt, spüre ich eine kribbelnde Wärme durch meine Hand strömen.  

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