Prolog

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Kalifornien, 1968

Es war Nacht. Die Rosenbüsche mit den weißen Blüten wurden von dem Wind leicht in Richtung Osten geweht, sodass ein leises Rascheln zu hören war. Die See lag friedlich dort, nur ein paar kleine Wellen zeichneten sich auf dem grünlichen Wasser ab. Zwischen dem Gewässer und einem riesigen Haus befand sich der kleine Vorgarten mit dem auf den Punkt gemähten Rasen. Der steinige Weg, der den See entlang und zu dem Haus führte, war von Trauerweiden umgeben, dessen Blätter ebenfalls leicht im Wind wehten. Doch draußen war es zu dieser Zeit viel friedlicher als im Inneren des Gebäudes. Ein Mercedes 190 SL fuhr vor, der Motor wurde abgestellt und der elegant angezogenen Frau wurde die Beifahrertür geöffnet. "Vielen Dank, James. Ich erwarte sie morgen wieder." Grinsend beugte sie sich vor und drückte dem errötenden Mann einen kurzen Kuss auf die Wange. Sie wusste, wie man den Männern den Kopf verdrehte und sie tat es gerne, obwohl sie seit Jahren verheiratet war und ein Kind besaß. Annabel war eine lebenslustige Frau und nicht zu vergessen, eine Hexe. 
Mit ihren hochhackigen Schuhen betrat sie das riesige Haus. Es brannte Licht. In der Eingangshalle rieb sie sich aufgrund der Kälte draußen die Hände und hängte ihren Pelzmantel an die Garderobe. Gepolter war aus dem Keller zu hören. Verwirrt lauschte Annabel nach weiteren Geräuschen. Es musste ihr Sohn sein, da sein Vater erst später von der Arbeit kam. Doch was hatte er im Keller zu suchen? Seufzend machte sie sich auf den Weg in den Keller um ihr Sorgenkind zu suchen. Die Holztreppen knarrten unter ihren Sohlen, während sie in die Dunkelheit hinabstieg. Aus irgendeinem Grund hatte sie Angst davor, das Licht anzuschalten. Es war zu ruhig hier unten, jetzt wo sie eben die Geräusche wahrgenommen hat. Plötzlich war ein leises Wimmern zu hören, worauf ihre Hand sofort zum Lichtschalter schnellte. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, drehte sich ihr Magen um und sie hatte das Gefühl, jeden Moment umzukippen. Um die 20 Personen saßen gefesselt vor ihr auf dem Boden, die Münder wurden ihnen mit Klebeband zugeklebt, sie waren schweißgebadet und ihre sichtbare Haut war voller blauer Flecken. Und in einer dunklen Ecke stand ihr Sohn Justin. Man konnte die Pistole in seiner Hand gut erkennen, da das Licht dort reflektiert wurde. Er strich mit seinen Fingern vorsichtig über den Lauf, fast schon so, als wäre diese Waffe sein Heiligtum. Mit einem leeren Ausdruck musterte er seine Mutter. Immer wieder hatte sie sich gefragt, warum er so war, wie er war? Was hatte sie in ihrer Erziehung falsch gemacht? Und nun war das Maß voll. Und sie konnte nichts unternehmen, denn sie wusste, dass sie ihn nicht mehr aufhalten konnte, wenn er sich etwas vornahm. Sie würde dabei draufgehen. Unbeweglich stand sie dort und kniff verstört die Augen zusammen. Jetzt konnte sie nicht mehr fliehen. Justin stieß ein tiefes Lachen aus, während er aus der Ecke hervorkam und auf seine Pistole sah. "Ich wusste, dass du nicht weggehen würdest. Es wäre auch dumm. Ich könnte dich ganz einfach..." Er deutete an, sie zu erschießen, was die junge Frau zusammenzucken ließ. Ihre Sohn grinste boshaft und wandte sich daraufhin wieder an seine Opfer. "Na, wer von euch will zuerst sterben?" Ein kleines Mädchen mit blonden, vom Schweiß verklebten Haaren, blickte voller Panik zu ihm auf, als er vor ihr stehen blieb. Er riss ihr das Klebeband vom Mund, sodass der 17-Jährigen ein Schrei entkam. Ihre Augen weiteten sich und Tränen quollen aus ihren Augen und rollten über ihre Wange. "Dich konnte ich noch nie leiden.", zischte Justin und zeigte mit der Waffe auf sie. "Lächeltst ununterbrochen, als wären deine Mundwinkel mit Kleber weiter nach oben geklebt worden. Ich kann es nicht mehr sehen, diese Fröhlichkeit." Tief durchatmend spannte er seinen Kiefer an. "Ich hoffe jetzt verstehst du endlich, oder besser ihr alle, dass das Leben bloß eine einzige Quälerei ist. Warum wart ihr so...glücklich?! Warum wolltet ihr es nicht verstehen? Aber ich werde euch dabei helfen, es zu verstehen." Seine Stimme bebte und er blickte über den Raum hinweg. "Ihr müsstSehen." Und mit diesen Worten erschoss er einen nach dem Anderen. Ohne Gefühl, ohne eine Träne zu vergießen, ohne sich das spritzende Blut von den Kleidern zu wischen. Annabel hatte die ganze Zeit über die Augen geschlossen und zählte innerlich die Sekunden, bis es endlich ein Ende nahm. Sobald sie keine Schüsse mehr hörte, öffnete sie ihre Augen langsam wieder und sah in das Gesicht ihres Jungen. Mit zittriger Hand hielt er sich die Pistole an den Kopf und sah direkt in die Augen seiner Mutter. "Dasselbe gilt für dich, Mom." "Es war an der Zeit", dachte die Hexe und ballte ihre Hände an den Seiten zu Fäusten. "Nein, mein Sohn. Du musst Sehen." Ein Knall ertönte und sein Körper fiel samt der Waffe leblos zu Boden. 

Deliver MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt