Kapitel 1 - Wasserspeiende Trolle

11K 1K 786
                                    


Gedanken können nicht stolpern.

Sie sind wie unterirdisches Wasser, das sich seinen Weg bahnt und irgendwann an die Oberfläche tritt. Als wäre jeder Gedanke ein Tropfen, der in einer Grotte von einem Stalaktiten fällt, bis sich eine Idee gebildet hat.

Ein kleiner See, der sich seinen Weg durch das Dunkel ans Licht sucht, bis er irgendwann aus einer Quelle sprudelt.

Eine Wortquelle, dachte ich und ich stellte mir vor, wie das Wasser aus den Mündern meiner Mitschüler floss, als wären sie Steinfiguren auf den Mauern eines alten Schlosses. Gestalten mit Fratzen und Flügeln, wie man sie auf den Dächern der Burgen in alten Disneyfilmen sah. Wasserspeier, nannte man diese Figuren. Löwen, Drachen und Greifen.

Mein Blick schweifte zu Natalie.

Oder Gargoyles.

Als sie meinen Blick bemerkte, drehte sie sich zu mir um und zog die dünngezupften Augenbrauen hoch. Die Gruppe, in der sie stand, verstummte, als sie mich von Kopf bis Fuss musterte.

„Willst du etwas sagen, Nia?"

Vielleicht doch kein Gargoyle, dachte ich. Eher ein Troll.

„Was ist?", fragte sie und verschränkte die Arme, während sie süffisant auf mich herabschaute. Ich lehnte mich auf der Fensterbank zurück und blinzelte träge nach oben. Sie wusste, dass ich ihr keine Antwort geben konnte, ohne mich zu blamieren.

Ich hielt ihren Blick, bis es ihr zu blöd wurde.

Die Sekunden zogen sich peinlich in die Länge und ich konnte sehen, wie ihre Selbstsicherheit langsam bröckelte. Als sie es schliesslich nicht mehr aushielt, räusperte sie sich vernehmlich.

„Das habe ich mir gedacht."

Sie drehte sich zu den anderen um, als hätte sie gewonnen und die Gruppe lachte verhalten. Zwei ihrer Freundinnen stiessen sich gegenseitig mit den Ellbogen an und kicherten demonstrativ. Belustigte Blicke streiften mich, aber ich liess mich nicht provozieren. Ich stieg schon lange nicht mehr auf ihre Spielchen ein, aber Natalie war zu einfältig um zu erkennen, dass man nicht gewinnen konnte, wenn man der einzige Spieler auf dem Brett war.

Menschen wie sie langweilten mich.

Sie waren zu vorhersehbar.

Man wusste genau, woran man bei ihnen war und es gab niemals etwas Neues, das einen überrascht hätte. Sie hackten auf jedem herum, der nicht in das Bild ihrer begrenzten Vorstellungskraft passte und brauchten stets ein Publikum, das ihnen zujubelte.

Wenn Natalies Sprüche wenigstens gut gewesen wären, hätte ich ihr vielleicht verzeihen können, aber leider war sie so einfallslos, wie ein toter Erfinder.

Ich zog die Beine auf die Fensterbank und liess meinen Blick den Flur hinunter wandern. Meine Schule war ein altes Gebäude und es gab viele Nischen wie diese, vor allem in den grossen Gängen mit den hohen Fenstern.

Ich sass gerne hier und beobachtete, was um mich herum geschah. Man war mitten im Geschehen und irgendwie doch nicht.

Am schönsten war es hier am frühen Morgen oder im Herbst kurz vor Schulschluss, wenn die Sonne ihre Strahlen durch die Zweige der Bäume warf, die im Innenhof standen, und so ein Muster aus Licht und Schatten auf die Flure malte.

Manchmal sah dadurch alles aus, wie ein Mosaik aus hellen und dunklen Farben.

Ich lächelte.

Es gab nicht viel an dieser Schule, das mein Interesse weckte. Selbst an Tagen wie heute, an denen der ganze Gang mit lautem Trubel erfüllt war.

Hinter der Bühne (AT)Where stories live. Discover now