VIII ⋆ 𝔇𝔞𝔰 𝔊𝔢𝔰𝔠𝔥𝔢𝔫𝔨

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Von einem Klopfen wurde Grace unsanft aus ihrem Schlaf gerissen. Langsam hob sie den Kopf, welcher ziemlich von der vergangenen Nacht auf den Büchern ziemlich schmerzte, und unterdrückte ein Gähnen.

»Ja, bitte?«, rief sie der Tür entgegen, während sie sich schnell - und begleitet von leichtem Schwindel - in ihr Bett verkroch. Die Nacht hier zu verbringen, wäre um einiges angenehmer gewesen.

Butcher Amos Campbell betrat die Stube, in der Hand ein in ein rubinrotes Seidentuch verpacktes Päckchen haltend.

»Du liegst noch im Bett, Kind?«, fragte er überrascht - dennoch freundlich -, ehe er das Mitbringsel am Fuße des Bettes ablegte.

Grace nickte nur und runzelte dann die Stirn.

Ihr Vater vernahm ihren Blick und nickte ebenfalls. »Dieses Paket hat der Bote ganz früh am Tage hier abgeliefert. Es kommt vermutlich vom Schloss...« Butcher schenkte Grace ein vielsagendes Lächeln und verschwand dann schon wieder hinunter in die Wirtsstube.

Kaum fiel die Holztür ins Schloss, beugte sich Grace vor und nahm voller Anspannung das Geschenk an sich. Sie musste es nicht lange betrachten, um zu erkennen, dass nicht das Schloss von Ethan von Devon und dessen Vater gemeint war, wenn auch Grace's Vater dies glaubte. Doch was nur hatte der Graf von Moldovan ihr zukommen lassen? Und weshalb? Vermutlich wollte er sich für sein ungehaltenes Auftreten während ihres letzten Besuches entschuldigen. Wohingegen er jedoch nicht den Eindruck eines Menschen machte, welcher schnell für Fehler einstand, geschweige denn diese überhaupt erst erkennt.

Doch Grace's Neugierde war zu groß und somit zog sie energisch das Tuch von dem Paket und hob den Deckel ab. Ihr Kopf setzte für einen kurzen Moment lang aus. Im Inneren des Geschenks kam ein sorgsam zusammengelegtes, wunderschönes Kleid zum Vorschein. Wie gebannt stand Grace auf und nahm es vorsichtig aus dem Paket, hielt es an den Schultern nach oben, wobei der Rock des Gewandes bis auf den Fußboden fiel. Es war aus einem dunklen merlotrotem Satin genäht, welcher je nach Lichteinfall fast schwarz erschien. Um die Taille zog sich eine Art Gürtel aus minimalistischen goldenen Diamanten, von welchen jeder einzelne wertvoller schien, als all der Schmuck, den Grace je besessen hatte. Über den Rock des Kleides war ein fast durchsichtig dünner Stoff gezogen, welcher mit filigranster Spitze und zu den Füßen hin ebenfalls mit goldenen Diamanten besetzt war. Die Schleppe dieses Gewandes zog sich weit über den Dielenboden.

Grace musste tief durchatmen, während sie das Geschenk behutsam faltete und wieder in das Paket zurück legte. Dabei fiel ihr Blick auf ein ästhetisches Kuvert an der Seite, welches sie ebenso unverzüglich öffnete und den darin enthaltenen Brief las.

Geehrte Miss Campbell
Ich hoffe zutiefst, daß ich Euch in diesem Präsent auf meinem Ball empfangen werde.
Ihr werdet gewiss strahlen, wie der silberne Mond am nächtlichen Himmel.

Hochachtungsvoll,
Graf Caio D. E. von Moldovan

Graf Caio verschwendete wohl keinen Gedanken mehr an die vorletzte Nacht. Hatte er denn wirklich nicht bemerkt, wie sehr er sie verschreckt hatte? Doch seine attraktive Arroganz - wohl eher Eleganz - stand vermutlich über seinem eigenen Empfinden. Oder aber er machte sich einfach nichts aus all dem. »Dieser Herr ist so anstrengend...«, Grace stützte fassungslos ihre Stirn auf ihre Hand. Doch trotz all den wenigen verstörenden Minuten in den Nächten seines Schlosses, gestand sich Grace nun ein, dass er ihr Interesse durchaus geweckt hatte. Sie war gerne in seiner Gesellschaft und wollte außerdem so viel mehr über ihn und sein schönes Anwesen erfahren. All diese alten Werke in seiner Bibliothek sowie seine bedrohliche Anmerkung während ihres letzten Besuches, als auch er selbst, verbargen noch so viele unentdeckte Geheimnisse, auf welche Grace förmlich brannte, diese zu erforschen.

Ja, sie würde zu dem Ball des Grafen gehen.

***

Zunächst jedoch stand Grace der tägliche Alltag bevor. Jede einzelne ihrer Aufgaben würde sie hoffentlich auch von ihrer anschleichenden Nervosität befreien. Grace gab sich alle Mühe sich nichts anmerken zu lassen, während sie sich wie auch sonst von allen Menschen herumschubsen ließ. Und obwohl es fast jeden Tag und jede Weihnacht so war, zweifelte sie in diesem Jahre immer mehr daran, dass all das hier ihre weitere Zukunft sein könnte. Oder wie der Graf es ausdrückte, ob all das hier wirklich genug für sie sein würde. Denn nein, es fühlte sich nicht so an. Nicht mehr.

Zusammen mit den beginnenden Problemen mit Ethan, sind auch Grace's Ambitionen für all die anderen Dinge ihres Alltages nach und nach erloschen und sie hatte all dies nicht mal richtig gemerkt. Erst der Graf von Moldovan hatte sie letztendlich darauf aufmerksam gemacht, hatte ihr den rechten Denkanstoß gegeben. Und auch wenn sie ihr momentanes Leben und alles was darin geschah noch nicht ganz verstand, so entfernte sich Grace immer und immer mehr von ihrer Realität, auf der Suche nach einem neuen Selbst. Und insgeheim hoffte sie, weshalb auch immer, dass der Graf ihr dabei helfen konnte. Jedenfalls schien er zur Zeit der einzige Mensch zu sein, welcher an Grace und an ihre Zukunft glaubte, ihr die Augen zu öffnen versuchte. Und die junge Frau wollte sich dem nun auch vollkommen hingeben.

Während sie den in Wasser getauchten Flicklappen über einen der Holztische gleiten ließ, beobachtete sie zwei der Männer, welche zu den Stammgästen ihres Vaters gehörten. Wie so oft standen sie vorne am Schanktisch bei einem Krug Bier und plauderten mit Butcher. Dabei ließ es der eine der beiden nicht unversucht, immer wieder mal einen Blick auf Grace erhaschen zu können. Sofort setzte das bekannte Unwohlsein wieder ein. Sie erkannte den Mann. Es war einer derer, welcher sich am Heilgen Abend am wenigsten in Zurückhaltung vor ihr übte. Krampfhaft versuchte sie nicht hin zu sehen, doch konnte spüren, wie sich seine durchdringenden Blicke an sie hefteten. Eines Tages würde es wohl soweit kommen, dass er sie ansprechen würde. Und Grace fürchtete sich bereits jetzt vor diesem Moment.

Sie beendete ihre Arbeit rasch, einerseits, um sich von den Blicken des Gastes abzulenken und andererseits, um zügig zum Schloss aufbrechen zu können. Schließlich verschwand sie in ihre Stube und machte sich mit größter Mühe für den Ball zurecht.
Alle Anspannung fiel erst von ihr ab, als sie das Haus verließ, ihren Hengst sattelte und aus dem Tor zur Stadt ritt.

Carpe NoctemWo Geschichten leben. Entdecke jetzt