Clarke verzog keine Miene als Adam ihn über den Selbstmord von Michael informierte.
"Verdammter Mistkerl", murmelte er und rotzte auf den Boden. "Wir haben also keinerlei Informationen aus ihm herausbekommen können." Er schwieg und schien nachzudenken. "Warum hat er das alles getan? Ich haben ihn immer für äußerst loyal eingeschätzt. Für einen Mann der zwischen richtig und falsch unterscheiden konnte."
"Ja, ich auch." Adam seufzte. "An dieser ganzen Sache ist so einiges merkwürdig. Glaubst du die Sache mit der Amnesie?", fragte er.
"Naja, wenn er bei dem Absturz wirklich was gegen Schädel bekommen hat, was nicht unwahrscheinlich ist, dann kann sein Gedächtnis tatsächlich gelitten haben. Vielleicht hätte sich das wieder eingerenkt." Clarke sah betreten zur Seite. "Aber naja."
"Ok, und was ist mit den Kopfschmerzen?", fragte Adam. "Das ist für mich noch immer das größte Rätsel."
"Also darauf weiß ich wirklich keine Antwort. Wahrscheinlich kamen die auch von dem Schlag auf den Kopf." Clarke schien es auch Sorgen zu bereiten. Zumindest deutete seine Mimik dies an. Oder es war sein exzessiver Schlafmangel. So genau wusste Adam das nicht. "Vielleicht sollten wir ein Memo an alle schicken, dass sie bei starken Kopfschmerzen einen Arzt aufsuchen sollen."
"Tun sie das denn nicht?", fragte Adam.
Clarke lächelte ein wenig. "Wenn alle wegen jedem kleinen Wehwehchen zum Arzt rennen würden, hätten wir ernsthafte Probleme. Du weißt selbst am besten, dass diese Einrichtung schon längst ihre Kapazität übersteigt, es uns aber trotzdem an Arbeitskräften mangelt um alles am Laufen zu halten. Auch wenn alle ihr bestes geben."
"Ja, ich weiß", murmelte Adam. Trübsinn legte sich in seine Miene."Wie geht es jetzt weiter?", fragte Clarke nach einer angemessen Zeitspanne des Schweigens.
"Ich hab beim besten Willen keine Ahnung", gab Adam zu und seufzte erneut. "Ich denke, ich werd mal mit Ela sprechen, was sie von der ganzen Sache hält. Ist sie hier?"
"Ja, sie ist hier auf der Krankenstation. Aber ich meinte das eher langfristig. Was unser nächstes Ziel ist."
"Ich werde morgen den Rat zusammenrufen. Wir werden Entscheidungen treffen", sagte Adam. "Aber ich will nach wie vor zum Mond."
"Ok", sagte Clarke und nickte. "Ich hoffe, die Zeit lässt uns genügend Spielraum. Wir sollten keinesfalls zögern."
Adam musste an EOS denken und an die bevorstehende Mission. Zeit war dabei ein entscheidender Faktor. Das war sie schon immer gewesen. Doch selten war sie so knapp bemessen. "Das werden wir nicht", sagte Adam. Er bewegte sich in Richtung Tür. "Ich muss wieder", sagte er.
Clarke nickte nur. Mit einem sorgenerfüllten Gesicht, das Adam so nicht kannte. Eigentlich war Clarke jemand, der seine Gefühle nicht verriet. Vielmehr noch, wenn alles vor die Hunde ging, war es Clarke, der die Fassung behielt. Doch das schien der Vergangenheit anzugehören.Nachdem Adam den Krankenbereich des inneren Kerns betreten und sich am Empfang identifiziert hatte, ging er zu den Behandlungsräumen. Vielmehr schlenderte er durch den Gang, denn wie er erfahren hatte behandelte Ela gerade einen Patienten. Aus einem der Zimmer hörte er ihre Stimme. Er stellte sich neben die Tür und wartete.
"Ich verschreibe dir was gegen die Schmerzen", sagte sie. "Gib das am Empfang ab."
"Vielen Dank", sagte ein Mann.
Verabschiedungsfloskeln folgten und die Tür öffnete sich. Der Mann trat heraus. Seine Hand war getapt. Wahrscheinlich hatte er Adam garnicht bemerkt, denn er eilte ohne ein weiteres Wort davon.
Adam hinderte die Tür daran ins Schloss zu fallen und trat ein. Dann räusperte er sich.
"Noch einen Moment bitte", rief Ela und tippte auf dem Pad ihrer Workstation.
Er räusperte sich ein weiteres Mal.
"Was denn?" Sie sah von dem Bildschirm auf. "Ach, du bist es. Setz dich schon Mal. Ich bin gleich soweit."
Adam lachte amüsiert. "Ich bin nicht als Patient hier." Trotzdem setzte er sich auf die Behandlungsliege. Das Tuch war zerknittert, wahrscheinlich noch von dem Typen mit der Handverletzung, aber das störte ihn nicht. "Hast du ne Minute." Das war keinesfalls eine Frage gewesen und Ela schien es bemerkt zu haben.
Sie seufzt. "Gut so. Hatte schon genug Verstauchungen, Prellungen, Quetschungen, Cuts, Brüche und was es sonst noch so gibt."
"So schlimm?", fragte Adam. Unbeabsichtigt legte sich eine zu große Spur Besorgnis in seine Stimme.
"Ist normal. In der Regel ist es auch selten was Dramatisches. Schließlich arbeiten wir an einem gefährlichen Ort. Meist behandle ich Leute von der Wartung oder der Fertigung. Ihnen fällt was schweres auf den Fuß, quetschen sich in einer Maschine die Hand und so weiter. Aber meist sind es auch ziemliche Idioten. Kennst du die Lüftungsventilatoren in der Robotik? Naja einem der Ingenieure ist irgendwie ein Werkzeug dahinter gefallen und er wollte es wieder rausholen. Hat er den Ventilator davor ausgeschaltet? Nein. Natürlich nicht. Hat ihm das Handgelenk zertrümmert. Später erfuhr ich, dass es eine ziemlich dämliche Wette war. Dabei meint man doch die Leute mit Master oder sogar einem Doktor würden nicht so einen Scheiß machen."
"Ihnen ist nur langweilig", warf Adam ein. "Kenn das nur zu gut. Wochenlang passiert nichts und dann überkommt einen plötzlich alles auf einmal." Auch wenn er aufmerksam zuhörte, wollte er eigentlich den Smalltalk beenden. Schließlich drängte die Zeit. Außerdem hasste er Smalltalk mehr als jede Therapie hätte entgegensetzen können.
Ela begann hysterisch zu lachen und drehte sich auf ihrem Stuhl zu Adam um. "Entschuldige, ich wollte nicht zu deiner Langeweile beitragen."
"Kein Problem", sagte er. Dabei bemerkte er ihre Stapel an Augenringe. "Du siehst nicht gut aus. Kannst du noch immer nicht schlafen?"
Sie seufzte schwer. "Nein. Immer wenn ich die Augen schließe, habe ich diese Bilder vor Augen. Der Staub, der Armstumpf, das Blut, der tote Junge. Auch wenn ich in meiner Karriere als Ärztin schon allerhand üble Dinge gesehen habe, war das mit Abstand das Schlimmste." Sie hielt Inne. Ihre Augen starrten durch Adam hindurch in die Leere. "Weil es was persönliches war." Sie schnaufte. "Phil hätte sterben können. Wir alle hätten sterben können. Und ich hätte nichts dagegen tun können. Nicht ohne Ausrüstung in diesem gottverlassenen Ödland. Noch dazu unter Beschuss. Aber am meisten verfolgt mich die Sache mit dem Jungen. Ich bin es gewohnt, Menschen wieder heile zu machen. Zu sehen, wie ein Mensch stirbt, ohne dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, macht mich kaputt. Noch dazu ist er durch meine Hände gestorben." Sie hob die Arme und betrachte ihre Handflächen. Eine Träne lief über die Hügel der Augenringe und tropfte auf ihrer Wange. "Immer wenn ich schlafe, habe ich diese Alpträume. Zuerst ist alles recht normal. Doch dann sehe ich den Jungen. Trotz seinem Schutz vor der UV-Strahlung erkenne ich seine Angst. Ich fange an zu lachen, presse ihm die Pistole auf die Brust und drücke ab. Blut spritzt mir entgegen, ich sehe das Leben aus seinen Augen entweichen und ich lache noch irrer. Dann wird alles ganz still. Bis der Lärm ertönt. Ich knie wieder in einem Radpanzer. Der Boden voll mit Kippenstummeln, Patronenhülsen und Blut. Vor mir ein Verwundeter. Nicht viel älter als der Junge. Er schreit, seine Kameraden halten ihn fest. Ich wühle in seinen Organen herum und dann..." Sie löste den Blick von ihren Händen und sah Adam direkt in die Augen. "Bum." Weitere Tränen rollen über ihr vom Schlafmangel gequältes Gesicht. "Meist wache ich davon auf. Schreie und schlage um mich, bis mir klar wird, wo ich bin. In einem Bett, in Sicherheit und nicht wie damals, in Deutschland, versteckt unter einem Berg an Trümmern und Leichenteilen. Ich weiß nicht wie lange ich dort begraben lag. Viele Stunden, vielleicht sogar Tage. Lange genug, dass sich mir der Wahnsinn des Krieges, das Töten und Sterben, auf ewig in mein Gedächtnis brennen sollte." Die einzelnen Tränen bildeten einen Strom. "Ich ertrag das nicht länger! Deshalb kann und will ich nichtmehr schlafen!", schrie sie. Ihre Hände ballte sie zu Fäusten.
Adam sah sie an. Geschichten wie diese hatte er schon zu hunderten gehört. Er reichte ihr ein Papiertuch aus dem Spender an der Wand.
"Danke", quetschte sie hervor und trocknete ihre Wangen.
"Verzweiflung, Gewalt, Krieg und Tod", sagte er und reichte einen weitere Fetzen. "Das haben wir alle erlebt", sagte er und hoffte gleichzeitig, dass es nicht zu herzlos klang. Doch hatte er auch einen Geistesblitz. Eine mehr oder weniger logische Erklärung für die Amnesie von Michael. Möglicherweise konnte es sogar sein Verhalten erklären. Aber Ela war ihm im Moment wichtiger.
"Du verstehst das nicht", jammerte sie. "Ich bin nicht in den verdammten Krieg gezogen, um Menschen zu töten. Ich wollte ihnen helfen. Dem Tod ein Schnippchen schlagen. Egal ob bei Freund oder Feind. Doch die Menschen sind Wahnsinnige. Sie beschossen gezielt Sanitätsfahrzeuge. Wir haben die roten Kreuze übermalen müssen, um nicht als Zielscheiben zu dienen."
"Doch ich verstehe das. Aber warum hast du dich danach nicht behandeln lassen? Taurus hat schon vor dem Krieg effektive Behandlungsmethoden bei Traumata entwickeln können. Mithilfe der Gehirnimplantate haben wir neuronale Bypässe legen können. Die Gehirnregionen in denen Wissen und Erfahrungen gespeichert werden, können überbrückt werden. Natürlich immer nur teilweise. Nur die Synapsen, welche die grauenhaften Erinnerungen beinhalten. Um es blöd auszudrücken. Aber das ist, als hätte man es nie erlebt", führte Adam aus.
"Das weiß ich doch alles", sagte Ela, die mittlerweile aufgehört hatte zu weinen. "Aber ich wollte niemanden in meinem Gehirn rumpfuschen lassen. Das Gehirnimplantat war mir schon zu viel des Guten, aber es war nunmal Pflicht."
"Ja, es ist Pflicht", sagte Adam und fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die Haare. "Das könnte uns zum Verhängnis werden", murmelte er.
"Was meinst du damit", fragte sie. Dabei hielt sie die durchnässte Tücher fest umklammert, so als würden sie ihr Trost spenden.
Adam schüttelte den Kopf. "Nichts. Habe nur laut gedacht", sagte er. "Du solltest an den Therapiestunden teilnehmen. Möglicherweise hilft es dir mit Menschen zu sprechen die ähnliches erlebt haben. Schließlich musst du schlafen."
"Es ist nicht nur der Krieg der mich verfolgt", sagte sie. Ihre Stimme zitterte. "Sondern einfach alles. Das Gefühl zu ersticken. Hier, unter der Erde. Seit ewigen Zeiten keine Sonne gesehen zu haben. Nicht zu wissen ob es Tag oder mitten in der Nacht ist. Nicht mehr zu wissen wie es ist über ein Feld zu laufen oder unter einem Baum zu stehen." Ihre Augen wanderten zu dem Poster an der Wand. Auf einer Wiese grasten Pferde. Im Hintergrund brach Sonne durch den Wald. "Ich vermisse die frische Luft, das Vogelgezwitscher." Sie ließ den Kopf sinken. "Das Gefühl zu Hause zu sein. In Freiheit." Dann fing sie wieder an zu weinen.
Adam reichte ihr weitere Tücher. "Ich werde heute Abend zur Therapiestunde gehen. Hab es bitter nötig. Du solltest mich begleiten."
"Ja, vielleicht hilft es tatsächlich. Es wäre arrogant anzunehmen, dass ich die Einzige mit Problemen wäre", sagte sie und nickte.Adam wartete bis der Fluss ihrer Tränen versiegt war. "Die Saat ist in großer Gefahr", sagte er dann und fasste die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal zusammen. "Denkst du, wir tun das Richtige, wenn wir die Saat, zumindest teilweise, zum Mond bringen?", fragte er.
"Ich höre Zweifel in der Stimme. Aber wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir es tun", sagte sie. "Die Bewahrung des Lebens ist unsere letzte Aufgabe. Egal was es kostet."
Adam gefiel nicht, wie sie 'letzte Aufgabe' betonte. Doch wahrscheinlich hatte sie recht. Keiner konnte sagen wie lange sie ihr zerbrechliches Leben unter der Erde weiterführen könnten. Und eine nächste Generation gab es nicht. Ihm tat diese Tatsache so sehr weh, dass auch er beinahe angefangen hätte zu weinen. Es sei denn es würde ihnen gelingen, die künstlichen Gebärkammern in Betrieb zu nehmen. Doch die Zeit drängte. Noch dazu hatten sie nicht einmal Babynahrung, geschweige denn Muttermilch. Also war das Leben zu bewahren und wenn es nur Samen werden sollten, tatsächlich ihre letzte Aufgabe. Natürlich musste das auf lange Sicht geschehen. Dafür war der Mond nach wie vor ideal geeignet. Kaum Tektonik, Korrosion und am allerwichtigsten keine Menschen, die durchdrehten und die Saat in Gefahr bringen könnten.
Adam merkte, dass er im Geiste abgeschwiffen war. "Wirst du mich oder besser gesagt uns denn immer noch begleiten?"
Ela schwieg zunächst. "Wer würde denn in Frage kommen?"
Er dachte nach. "Da wären ich, Kim, Ace, du und hoffentlich Veronica. Denn ohne Robotikexpertin brauchen wir garnicht erst zum Mond fliegen."
"Phil nicht?", fragte sie. Ihre Augen wanderten wieder zu dem Poster an der Wand.
"Das ist die Frage", murmelte Adam und dachte nach. "Eigentlich möchte ich ihn schon gerne dabei haben. Nicht nur, weil er ein großartiger Wissenschaftler ist. Vielmehr weil er mein Freund ist." Er gab sich eine Weile der Melancholie hin, dann fuhr er fort: "Aber ich glaube nicht, dass ich ihn überreden kann mitzukommen. Du weißt doch, wie wichtig ihm seine Pflanzen sind. Wahrscheinlich könnte er es nicht verkraften sie zurück zu lassen."
"Ja, Pflanzen waren im schon immer wichtiger als Menschen." Sie seufzte. "Ich werde mitkommen. Sofern ich bis dahin wieder auf meiner geistigen Höhe bin. Schlimmer als hier kann es auf dem Mond garnicht sein."
"Das freut mich", sagte Adam und lächelte. "Wahrscheinlich hast du dort sogar weniger Arbeit."
Auch sie lachte ein wenig. "Ja, wahrscheinlich. Denn Tote müssen nicht behandelt werden."
Adam schluckte, denn sie hatte recht. Die Gefahren im All und auf dem Mond waren grauenvoll tödlich und ebenso unvorhersehbar. Ein Fehler konnte den Tod aller bedeuteten.
Er räusperte sich. "Wir sehen uns heute Abend bei der Therapie", sagte er und stand auf. Ela starrte noch immer auf das Poster an der Wand. Adam legte ihr die Hand auf die Schulter. "Hey, es wird schon alles gut werden." Ein schwacher Trost, doch zu mehr war er im Moment nicht im Stande. Sie drehte sich zu ihm und und lächelte. Er nickte noch einmal, ließ von ihrer Schulter ab und machte sich davon.////////
Anmerkung für die Korrektur:Sollte Ela Adam nach seinem Gehirnimplantat fragen?
Ob er sich einen neuronalen Bypass legen hat lassen, um Erlebnisse aus seinem Gedächtnis streichen zu lassen?
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Die Saat
Science FictionDie Erde liegt im Sterben. Das Leben steht am Abrund. Fieberhaft wird nach einem Ausweg gesucht. Die Saat könnte die Karten neu mischen. Einen neuen Weg eröffnen. Eine zweite Chance. Doch nicht alle wollen das Leben vor dem Aussterben bewahren... ...