Kapitel 2 - Runa

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Die kugelrunde Lampe an der Wand über Runas Bett weckte sie mit ihrem immer heller und greller werdenden Licht. Künstliches Vogelgezwitscher drang aus Lautsprechern, die hinter der wabenartigen Wandmembran verborgen lagen. Runa zog sich grummelnd die Decke über ihren Kopf, sodass nur noch ein paar blonde Haarspitzen darunter hervorschauten. Es war früh, viel zu früh für Runa. Doch das interessierte in diesem Haus niemanden. Wenige Augenblicke später öffnete sich die automatische Tür zu ihrem Schlafzimmer mit einem leisen Zischen.

Ohne unter ihrer Bettdecke hervorlugen zu müssen, wusste Runa, dass ihre Mutter gerade den Raum betreten hatte. Ida war eine Frau, die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit schätzte. Jeden Morgen, ohne Ausnahme, weckte sie Runa zur selben Zeit.

»Metis«, sagte Runas Mutter an den DomoBot gewandt, »beende Wecken. Öffne Jalousien.«

Die künstliche Intelligenz, die unsichtbar, aber allgegenwärtig alle Funktionen des Hauses steuerte, gehorchte.

Metis ließ das Vogelgezwitscher verstummen. Das grelle Licht wurde sanfter und passte sich dem Tageslicht, das langsam durch das bodentiefe Fenster in den Raum fiel, an.

Runa spürte, wie sich das Gewicht auf ihrer Matratze verlagerte. Ida hatte sich neben sie auf den Rand des Bettes gesetzt. Sanft zog ihre Mutter die Decke von Runas Kopf.

»Guten Morgen, Tochter«, begrüßte sie Ida. Wie immer hatte sie ein mildes Lächeln auf ihren Lippen, das jedoch nie ganz ihre Augen erreichte.

Runa drehte sich verschlafen zu ihrer Mutter um. »Guten Morgen, Mutter«, erwiderte sie.

Ida strich sich eine Strähne ihres glänzenden braunen Haares hinters Ohr. Dann sagte sie mit samtweicher Stimme: »Es wird Zeit aufzustehen. Heute ist ein wichtiger Tag.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Runa, bemüht um einen freundlichen und wachen Tonfall. »Ich stehe sofort auf, Mutter.«

Für einen Moment war es so, als hätte Ida sie nicht gehört. Sie schaute Runa mit unergründlicher Miene an. Das Mädchen richtete sich etwas ungeschickt auf, um sich dem starren Blick ihrer Mutter zu entziehen.

Es verunsicherte Runa, dass sie nie richtig erkennen konnte, was in Idas Kopf vorging. Obwohl diese Frau sie geboren hatte, obwohl sie beide sich jeden Tag sahen, schien da immer eine unsichtbare Wand zwischen ihnen zu stehen.

Eine unüberwindbare Distanz.

Während Runa noch grübelte, erhob sich Ida unvermittelt. Der rätselhafte Ausdruck war vom Gesicht ihrer Mutter verschwunden, beinahe so, als hätte Runa sich den entrückten Blick nur eingebildet. Nun nickte Ida zufrieden, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

Runa seufzte und schälte sich widerwillig aus ihren Laken. Kaum hatte sie ihre Füße über die Bettkante geschwungen, erschien ein Hologramm vor ihr auf Augenhöhe.

»Guten Morgen, Runa.« Metis' körperlose Stimme erklang aus dem Nichts. »Deine Vorschau für den heutigen Tag: Du hast heute ein wichtiges Ereignis. Das wichtige Ereignis lautet: Aufnahmeprüfung Lamarck-Akademie.«

Der Termin leuchtete in grellblauen Lettern vor Runa auf. Sie verdrehte ihre Augen.

Als ob sie das jemals vergessen könnte!

Seit Wochen bereitete Runa sich auf diese Aufnahmeprüfung vor. Ihr ganzer Alltag, wie wahrscheinlich der Alltag vieler 17-Jähriger in Eugenica, war davon bestimmt. Sie hatte ihren Heimunterricht vor drei Monaten erfolgreich abgeschlossen, nun galt es sich einen Platz an einem der renommiertesten Weiterbildungszentren des Landes zu sichern.

Runa war für Lamarck bestimmt, denn dort waren schon ihre Eltern ausgebildet worden. Die Akademie brachte die Top-Ärzte und -Genetiker des Stadtstaates hervor, und kaum etwas hatte in Eugenica einen so hohen Stellenwert wie Medizin und Genforschung.

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»Bitte beeile dich.« Metis hatte für Runas Grübeleien und Morgenmuffeligkeit kaum mehr Geduld als Ida. »Frühstück beginnt in 10 Minuten.«

»Ja, ja, ja«, murmelte Runa, stand auf und trat vor die Wand rechts von ihrem Bett. Augenblicklich verschwand die Mauer, die nur eine holografische Einrichtung war, und gab den Blick auf das Badezimmer frei.

Das Bad war, wie Runas Zimmer, in sterilem Weiß gehalten. Neben einem Waschbecken und einer Toilette gab es eine große gläserne Duschkabine. Runa streifte ihren schlichten hellblauen Pyjama ab und trat unter die Brause.

»Frühlingsregen«, sagte sie und einen Augenblick später plätscherte lauwarmes Wasser auf sie herab.

Ein Duft von Magnolien, Flieder und frisch geschnittenem Gras hüllte sie ein, während an die durchsichtigen Duschwände Bilder von blühenden Bäumen und Wiesen projiziert wurden.

Runa atmete tief ein. Sie war nervös, denn die Prüfung heute würde nicht leicht werden. Zwar hatte Runa ihre gleichaltrigen Mitschüler im virtuellen Vergleich immer überflügelt, aber die Aufnahmeprüfung der Lamarck war mit den Tests, die sie unter Metis' Aufsicht zuhause bearbeitet hatte, nicht zu vergleichen.

Die Prüfung würde mündlich stattfinden, und Bestandteil der Probe war nicht nur ein Wissenstest, sondern auch ein psychologischer Test. Es gab keine Einschränkungen bezüglich des Lernstoffs, der abgefragt werden durfte, was es so gut wie unmöglich machte, sich gezielt vorzubereiten. Die Prüfer konnten sie beinahe alles fragen!

Dennoch, um zumindest ihr Gewissen zu beruhigen, hatte Runa in den vergangenen Wochen und Monaten jedes Thema, das sie je im Heimunterricht bearbeitet hatte, wiederholt. Alles, was die Kinder von Eugenica in 10 Jahren lernten, war in ihrem Kopf abgespeichert. Hoffentlich würde das ausreichen!

Erfrischt, aber nicht weniger besorgt, trat Runa aus der Dusche. Eine wärmende Lampe und ein leise summendes Gebläse trockneten ihren Körper, während das Mädchen schon nach der ordentlich gefalteten Kleidung griff, die in einem versteckten Fach in der Badezimmerwand lag.

Sie schlüpfte in eine seidige dunkelblaue Hose und eine weiße Tunika – Standardkleidung, wie sie jede Jugendliche in Eugenica trug. Ihr schulterlanges blondes Haar fasste Runa einfach locker mit einer Haarspange zusammen.

Sie betrieb keinen großen Aufwand um ihr Aussehen. Während andere Mädchen eine raffinierte Frisur oder ein sorgfältig abgestimmtes Make-up nutzten, um sich abzuheben, störte es Runa nicht, mit ihrer Uniform in der Masse unterzugehen. Mit ihrem hellblonden Haar und den leuchtend blauen Augen stach sie ohnehin schon heraus.

Die meisten Eugenicaner hatten dunkles Haar und braune Augen, dieser Phänotyp hatte sich über Jahrhunderte der dominant-rezessiven Vererbung durchgesetzt. Alles, was davon abwich, galt als exotisch. Nur wenige einflussreiche Bürger konnten sich diese selteneren Merkmale leisten, die kaum noch auf natürlichem Wege vererbt wurden.

Mithilfe uralten Erbmaterials und technologischer Raffinesse wurden sie in einem Prozess, den man Genus-Design nannte, den eugenicanischen Kindern mitgegeben, wenn sie kaum mehr als ein Klumpen von Zellen waren.

»Wer schön und besonders ist«, hatte Ida mal zu Runa gesagt, »hat mehr Erfolg im Leben.«

Dass man mit dem Genus-Design Krankheitsmarker identifizierte und ausmerzte, war mittlerweile selbstverständlich, aber dass man das Aussehen eines Kindes optimierte, war Luxus.

Runa konnte sich eigentlich glücklich schätzen, dass ihre Eltern so wohlhabend waren und bei ihrem genetischen Design nicht gespart hatten. Runa war nicht nur gesund und hübsch, sie war auch ein wenig größer als die meisten Mädchen ihres Alters. Ihr schlanker, athletischer Körperbau galt als äußerst attraktiv.

Doch manchmal fragte sich Runa, wie sie wohl ausgesehen hätte, wenn ihre Gene nicht nach den Wünschen von Ida und Leif zusammengestellt worden wären. Vielleicht hätte sie dann das kastanienbraune Haar ihrer Mutter geerbt. Vielleicht wäre sie mit den kühlen grünen Augen ihres Vaters geboren worden, die ebenso besonders, aber nicht so unnatürlich blau wie ihre eigenen waren. Vielleicht hätte sie kürzere Beine gehabt, aber dafür den eleganten, wiegenden Gang ihrer Mutter übernommen ...

»Bitte beeile dich«, unterbrach Metis Runas Gedanken, »Frühstück beginnt in zwei Minuten.«

Runa trat aus ihrem Zimmer hinaus in den Flur. Boden und Wände des langen, schmalen Raumes waren wie so vieles im Haus in Weiß gehalten. Obwohl keine Fenster oder Lampen zu entdecken waren, war es taghell in dem Gang. Es gab keine Möbel, kein einziges überflüssiges Einrichtungsstück, das nur im Weg gestanden hätte. Scheinbar führten auch keine Türen aus dem Gang hinaus, doch tatsächlich waren die Eingänge zu den zahlreichen Zimmern im Heim der Eriksons lediglich versteckt. Übergangslos in die Wände eingelassene Schiebetüren oder Holo-Einrichtungen gaben, kaum dass man davorstand, den Weg in die angrenzenden Räume frei.

Runa ging ein paar Schritte und blieb dann vor der Wand zu ihrer Linken stehen. Ein leises Zischen war zu hören und die Mauer schob sich zur Seite.

Sie betrat das Esszimmer.

»Guten Morgen, Vater«, begrüßte Runa den Mann, der am gläsernen Esstisch saß und konzentriert ein Hologramm las.

Seine grünen Augen flogen schnell über die winzigen leuchtenden Buchstaben, die vor ihm über dem Tisch schwebten. Wahrscheinlich las Leif Erikson wieder einmal eine wissenschaftliche Veröffentlichung über Genetik, denn Runas Vater war einer der angesehensten Genetiker des Landes. Nachdem er den Absatz beendet hatte, blickte er zu Runa auf.

»Guten Morgen, Tochter«, sagte er mit einem schmalen Lächeln, »setz dich doch zu mir.«

[Leseprobe] Invalidum - Gefährliche PerfektionWhere stories live. Discover now