Kapitel 12

18 4 2
                                    

Unsicher starrte Matthew die Tür an.
Er hoffte inständig, dass es Eleanor war. Sie konnte sich ja nicht einfach zu ihm hinein teleportieren. Das hatte sie ihm ja gesagt. Sie konnte sich nur an Orte teleportieren, an denen sie schon einmal gewesen war. Und da sie nicht wusste, wie die Hütte von innen aussah, musste sie klopfen.
Ja, das machte Sinn.
Aber würde sie dann nicht nach ihm rufen?
Das Klopfen wurde stärker. Aber es schien auch in größeren Abständen zu ertönen.
Tock...
Stille.
Tock...
Matthew atmete tief ein und stieß die Luft mit aufgeplusterten Wangen wieder hinaus. Er musste an die Tür gehen. Er hatte gar keine andere Wahl. Es sei denn, er würde warten, bis das Klopfen aufhörte. Aber vielleicht würde der Klopfende nicht einfach verschwinden. Vielleicht würde er die Tür sogar irgendwann einfach aufbrechen!
Nervös schluckte Matthew einen Kloß hinunter und setzte zum Aufstehen an.
Nein, dachte er sich, erst die Schuhe wieder anziehen. Falls er weglaufen musste, konnte er unter keinen Umständen barfuß sein. Beinahe lautlos zog er also seine Stiefel zu sich, streifte sich die Socken über und schlüpfte in die klammen Stiefel hinein. Mit einem Ruck zog er die Schnürsenkel zu und stopfte sie schnell in die Seiten der Schuhe.
Jetzt war er gewappnet.
So gut es ging jedenfalls.
Entschlossen - aber möglichst leise - stand er auf. Beinahe hätte das Holz unter seinen Füßen geknarzt, doch er verlagerte geschickt sein Gewicht und vermied so, verräterische Geräusche zu verursachen. Wie in Zeitlupe schritt er an die marode Holztür, von welcher immer noch das dumpfe Klopfen drang.
Als er sie erreicht hatte, ging er ganz dicht mit seinem rechten Ohr an das Holz heran und konzentrierte sich. Er konnte kein tiefes, monströses Schnaufen hören; kein Grollen, das seinen Tod bedeuten könnte. Nur das gleichmäßige, langsame Klopfen. Die Tür bewegte sich bei jedem Schlag um ein paar Millimeter, um kurz darauf wieder an ihre Ursprungsposition zurück zu kehren.
Gerade, als Matthew seine Hand an den Riegel legen wollte, überkam ihn ein Gedanke: Sollte er die Tür schnell und ruckartig aufreißen, oder lieber langsam und vorsichtig? Jemand, der ihn mit aller Gewalt, die ihm inne lag, anfallen wollte, würde sicher nicht anklopfen. Und doch verunsicherte Matthew die langsame Regelmäßigkeit. So klopft doch kein Mensch, dachte er sich. Vielleicht war es eine Falle?
Da seine Überlegungen nicht unbedingt seine Entscheidungsfreude förderten, entschied er sich intuitiv für die langsame, vorsichtige Art. Vorsichtig.. und bedacht. Keine Entscheidungen, die ihm den sofortigen Tod bringen könnten. Wenn er die Tür langsam öffnete und ein Monster ihn anstarren würde, so könnte er die Tür direkt wieder zuknallen, ehe er sie ganz geöffnet hatte.
Perfekt.
Noch einmal atmete er tief ein und hielt die Luft an.
Der Riegel quietschte leise, als Matthew ihn durch die Metallröhre schob. Die Tür öffnete sich wie von alleine, wurde vom Schwung des Klopfens geschubst.

Ächzend öffnete sich die Holztür gute zwanzig Zentimeter. Auf das Schlimmste gefasst und mit angehaltenem Atem, starrte Matthew durch den Spalt.
Er konnte kaum glauben, was er erblickte.
Ja, es grenzte schon beinahe an einen Witz. Erleichtert ließ Matthew die Luft aus seinen Lungen entweichen. Er kam sich so lächerlich vor. Nein, eher als hätte sich jemand über ihn lächerlich gemacht.
Neugierig betrachtete er den Mann, der in gleichmäßigen Abständen seinen Kopf nach vorne schwingen ließ. Er schien gar nicht zu merken, dass das Holz, an welchem er seine Stirn verewigen wollte, nicht mehr da war.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen hob Matthew seine linke Hand. Die Rechte behielt er an der Tür, falls der kleinere Mann auf einmal doch im Hier und Jetzt ankam und irgendwelche ruckartigen Bewegungen versuchte. Man kann ja nie wissen!
Vorsichtig berührte er den Mann mit dem struppigen Haar an der Schulter. Dieser hielt abrupt inne. Auch Matthew erstarrte. Langsam hob der Kleinere den Kopf und schaute Matthew an. Er sah ihm direkt in die Augen. Er... Grinste er?
„Oh, hallo, Freund!", rief der Struwwelpeter und schenkte Matthew ein freudiges Lächeln. Verwirrt zog der seine Hand zurück und legte den Kopf schief. „Äh... Hallo", antwortete der Junge und lockerte auch den Griff seiner rechten Hand, die mittlerweile wieder zu Pochen begonnen hatte.
„Ihr habt Euch vor dem Sturm versteckt, richtig? Er hat es gesehen. Heute Nacht... hat er es gesehen", sagte der Mann mit immer leiser werdender, kratziger Stimme.
Unsicher nickte Matthew. „Wer... Wer hat was gesehen?", wollte er wissen.
„Er hat Euch hineingehen sehen. In die Hütte", erklärte der Mann flüsternd.
Mit tief gesenkten Augenbrauen nickte Matthew nochmals.
Aufgeregt und mit großen Augen schaute der dürre Mann an Matthew vorbei. „Noch jemand bei Euch? Seid Ihr alleine? Oder vielleicht... Vielleicht..." Suchend schaute der Mann zu Boden und kurz darauf wieder zu Matthew auf. „Oh! Er heißt übrigens Frix! Wie geht es Euch?", rief er aus und streckte Matthew seine Hand hin. Seine Hände waren dreckig. Ein bisschen ledrig. Frix' Fingernägel sahen aus, als würden sie ständig abbrechen. Sie waren dunkel gefärbt und waren mehr dicke Verhornungen, als echte Fingernägel.
Zögernd griff Matthew nach der ausgestreckten Hand und stellte sich dabei vor. Im selben Moment bereute er seine Entscheidung.
Frix packte Matthews Hand aufgeregt und schüttelte sie mit einem Elan, den der Junge zuvor noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Dummerweise hatte er ihm seine rechte Hand gegeben.
Schmerzerfüllt biss er die Zähne zusammen. Er wollte dem verwirrten Mann nicht auf die Füße treten und ließ die Begrüßungszeremonie über sich ergehen.
Danach standen sie beide da. Schauten sich an.
Keiner wusste so recht, was er sagen sollte.
Frix begann, an seinen Armen nach losen Hautfetzen zu suchen, die er abreißen konnte. Matthew fand das ziemlich unangenehm. Er sah, dass Frix' Arme übersäht waren mit Schorf und kleineren Schnitten. Dem Anschein nach zu urteilen musste Frix den Schorf immer wieder aufgekratzt haben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des peinlichen Schweigens – und als Matthew genug von dem Abreißen der Hautfetzen hatte – räusperte er sich.
„Gut... Ähm. Ich muss dann mal weiter", sagte er und wollte sich an dem Mann mit dem wilden Haar vorbei drücken. „Wo geht Ihr hin?", fragte der Kleinere und ließ seine Arme endlich in Ruhe.
Matthew fragte sich, ob es eine gute Idee wäre, dem merkwürdigen Kauz mitzuteilen, wo er hin wollte. Er schien nicht unbedingt gefährlich, aber irgendetwas kam ihm komisch vor.
„Ach, ich spaziere nur ein bisschen durch die Gegend", log der Junge.
„Hervorragend! Frix mag Spazierengänge!", rief der Mann mit dem grau-braunen Haar.
Seufzend setzte Matthew seinen Weg fort. Frix folgte ihm, was Matthew weiter verunsicherte.
Er traute sich jedoch nicht, ihn wegzuscheuchen. Sollte er nun weiter in Richtung Donnerpass gehen oder tatsächlich etwas spazieren, bis der komische Kauz den Spaß an seiner Gesellschaft verlor?
Leichte Schmerzen machten sich in Matthews Hinterkopf bemerkbar. Sein Magen knurrte und seine Hand tat schrecklich weh. Im Gehen riskierte er einen kurzen Blick darauf. Die Wunde sah ganz und gar nicht gut aus. Der gelbe Schimmer unter dem getrockneten Blut und Wundsekret lächelte ihn an. Es musste lächeln, denn es gab doch keine schönere Freude, als die Schadenfreude. Und was wäre gerade jetzt wohl unpassender, als eine entzündete Wunde, während ein Verrückter Matthew begleitete und Letzterer nicht einmal genau wusste, wohin er gehen sollte.
Intuitiv steuerte er auf die Berge zu. Die lockere, feuchte Erde knirschte unter den Schritten der beiden. Bei Tage – obwohl die Sonne immer noch nicht wirklich Lust hatte, das Land zu erhellen – schien der knorrige, lichte Wald immerhin nicht so gruselig.
Wenn er es sich recht überlegte, war er ganz froh, dass Frix ihn begleitete. Allein zu sein in einem fremden Wald behagte ihm nicht unbedingt.
„Wollt Ihr zum Gromberg?", fragte Frix unvermittelt.
Fragend schaute Matthew zu dem Mann hinunter. Mit einem klitzekleinen Kloß im Hals antwortete er: „Zum Donnerpass." Hoffentlich war das keine dumme Entscheidung gewesen.
„Ah... Ja...", der Mann erschauderte. „Der Donnerpass führt am Gromberg vorbei..." Frix blieb stehen und zeigte in Richtung des höchsten Berges. „Er nutzt ihn immer zur Orientierung. Damit er sich nicht verläuft. Manchmal verläuft er sich, weil die Knochen ihm die Sicht verdecken", dabei schielte der Verrückte zu einem der blätterlosen Bäume.
„Kennst du den Weg durch den Donnerpass? Ich muss zu einem Einsiedler namens Bah... – ähm – Bahadur", erklärte Matthew. Ein Funken Hoffnung.
Frix begann aufgeregt zu nicken und stellte sich vor den Größeren. „Er kennt ihn, ja. Ja, aber... Aber... Baha...?" Er schien zu überlegen. Matthew wartete gespannt, womöglich konnte der Verwirrte ihm ja doch helfen.
Anfangs schien Frix wirklich angestrengt nachzudenken. Doch irgendwann entspannten sich seine Gesichtsmuskeln und er begann, seine Arme abzusuchen. Matthew seufzte und versuchte, Frix' Blick wieder aufzunehmen. „Also? Was ist? Kannst du mich zu Bahadur führen?"
Langsam schaute Frix auf. Starrte Matthew in seine braunen Augen. Der erschauderte bei dem starren Blick, der ihn durch diese fast schwarzen Augen durchbohrte. Der Junge traute sich nicht, zu blinzeln oder sich zu bewegen. Wie, wenn man von einem wilden Tier angestarrt wird, das nur darauf wartet, dass die Beute zu einem Fluchtversuch ansetzt, dachte Matthew sich.
Frix blinzelte, kniff die Augen einen Moment fest zusammen. Als er sie wieder aufschlug, war die Bedrohung in seinem Blick verschwunden. Er nickte. „Ja, er kann Euch zu ihm führen. Aber... Dafür müsst Ihr ihm helfen", antwortete der Verrückte schließlich.
Matthew hob eine Augenbraue. „Wobei soll ich dir helfen?"
„Er möchte wieder in die Stadt gelassen werden. Hinter dem Bergtunnel. In die große, helle Stadt. Dort, wo immer die Sonne scheint. ...Er mag die Sonne. Ihr müsst ihm helfen, dass die ihn wieder rein lassen!", sagte Frix und lächelte verträumt vor sich hin.
Matthew überlegte, wie er das anstellen konnte. Er hatte ja keine Ahnung, weshalb Frix überhaupt hier war. Vielleicht konnte auch Eleanor etwas ausrichten – wenn diese eigennützige Dämonin jemals wieder zurückkam. Er selbst hatte ja einen recht guten Draht zu König Anselm gehabt. Vielleicht konnte er ein gutes Wort für den bedauernswerten Lumpenträger einlegen.
Selbst wenn nicht, er musste zusagen.
Er musste immerhin zu dem Einsiedler kommen.
Er musste zu seinen Eltern zurückkommen.

„Okay, ich helfe dir", sagte Matthew. Plötzlich sprang Frix ihn an und schenkte ihm eine feste, überschwängliche Umarmung. „Oh danke! Danke, dankedanke!", rief der Verrückte und presste sich an den Größeren. Vorsichtig versuchte Matthew, sich aus der eher unangenehmen Umarmung zu befreien und lächelte den struppigen Kerl mitleidig an.
„Gut... Dann wollen wir mal", sagte Matthew und setzte seinen Weg mit Frix, dem verrückten Lumpenträger, fort.

BoundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt