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Hussein bewachte mich meine ganze Schicht über mit Adleraugen. Nebenbei bestellte er sich fleißig irgendwelche Drinks an der Bar. Ich glaube, dass er mittlerweile fast die ganze Karte durch hatte und als meine Schicht zu Ende war ging es ihm auch dementsprechend. Zu ihm nach Hause mussten wir die Öffentlichen nehmen, da er nicht mehr in der Lage war zu fahren und ich keinen Schein hatte. Die ganze Fahrt über lehnte er im Halbschlaf an meiner Schulter.
"Weißt was ich nicht versteh?", murmelte er.
"Wasn?"
"Was du an Vladislav findest. Ja, er ist mein Bruder und so und ich mag ihn echt aber er behandelt dich doch überhaupt nicht gut. Alleine schon die ständigen Bitches nebenbei."
"Wir sind doch nicht zusammen Habibi, er kann ficken wen er will.", antwortete ich und dachte über seine Worte nach.
"Wir wissen beide also alle drei, dass ihr euch liebt, ihr wollt es nur nicht zu geben."
"Ist gut. Komm aufstehen Großer, wir müssen hier raus.", lenkte ich vom Thema ab und er trottete mir wie ein kleiner Hund hinterher. Den ganzen restlichen Fußmarsch zu ihm nach Hause hüllte er sich in Schweigen. Bei ihm angekommen viel er müde auf die Couch und wenig später schlief er auch schon. Bevor ich ging, deckte ich ihn noch zu und schloss so leise wie möglich die schwere Haustür. Auf dem Rückweg zur U-Bahn rauchte ich eine Zigarette und hoffte einfach nur nicht von irgendjemanden angequatscht zu werden. Ich hasste es nachts alleine in den Straßen Berlins unterwegs zu sein, vor allem wenn man so freizügig, wie ich, gekleidet war. Bei Hussein hätte ich zwar bleiben dürfen aber ich konnte nicht. Ich musste nach Hause. Ich brauchte meinen Stoff. Der Suchtdruck war einfach viel zu stark. In der U-Bahn angekommen wartete ich auf meine Bahn. Ein paar Meter weiter stand eine Gruppe Halbstarker Jugendlicher. Hoffentlich ließen sie mich in Ruhe, obwohl ich deutlich ihre Blicke auf mir spüren konnte. Ich atmete erleichtert aus als meine Bahn einfuhr und setzte mich soweit wie möglich weg von der Gruppe. In Gedanken versunken blickte ich während der Fahrt aus dem Fenster und die Lichter Berlins rauschten nur so an mir vorbei. Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich fast meine Haltestelle verpasst hätte. Im letzten Moment zwängte ich mich noch die Türen, die sich bereits wieder schlossen. Von der Haltestelle bis nach Hause waren es nicht mehr als fünf Minuten. Erleichtert schloss ich die Haustür hinter mir und war froh es unversehrt nach Hause geschafft zu haben. Jede Nacht war es ein Kampf. Ein Kampf der niemals endete.

In meinem Zimmer angekommen kramte ich die Box mit meinem Besteck und meinem Stoff aus dem Schrank. Ich setzte mich wie immer auf mein Bett bevor ich mir den ersten Schuss setzte. Da letztes Mal eine Dosis nicht gereicht hatte, nahm ich den kompletten Stoff, den ich noch zu Hause hatte. Ich wollte mich einfach nur frei fühlen. Ich wollte an nichts mehr denken und ich wollte erst recht nichts mehr fühlen. Höchstwahrscheinlich entsprach dies der Dosis von gestern, vielleicht war es auch ein wenig mehr. So genau wusste ich das nicht. Ich jagte mir die Dosis in meine Vene und ließ mich in die Kissen fallen. Langsam entspannte sich alles und ich fühlte mich so unglaublich leicht an. Dieses schöne Gefühl hielt aber nicht lange. Ich merkte wie ich immer mehr die Kontrolle über meinen Körper verlor. Meine Sicht verschlechterte sich und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich wollte schreien doch es verließ nichts meinen Mund. Bis ich schlussendlich komplett weg war..

Vladislav

"Balovatsky, aufstehen, anziehen und mitkommen!", blaffte mich der Wärter an. Es war echt schön so geweckt zu werden. Augenrollend stand ich auf, zog mich an und verschränkte meine Hände hinter dem Rücken. Ich wusste nicht einmal was los war. Warum wurde ich so früh schon aus meiner Zelle geholt? Hatte ich etwas vergessen? Ich glaube nicht. Der Beamte legte mir Handschellen an und schob mich zur Tür hinaus. Er brachte mich zu den Besprechungsräumen in denen man mit seinem Anwalt sprechen konnte. Im Besprechungsraum saß bereits eine mir unbekannte Frau. Blonde Haare, schätzungsweise Ende 20 und sie sah aus wie eine Anwältin mit der nicht zu spaßen war. Vielleicht war sie die Schwester von diesem Bastard Tom. Ich setzte mich auf den freien Stuhl und sah sie fragend an.

"Guten Morgen Herr Balovatsky, ich bin Frau Marx, Ihre neue Rechtsanwältin. Ich habe gestern Ihren Fall übernommen. Leider haben wir heute für ein Kennenlernen nicht viel Zeit. Ich konnte für Sie aufgrund eines schlimmen Ereignisses drei Tage Hafturlaub erwirken.."
"Hafturlaub? Warum? Ist meiner Freundin was passiert? Oder meiner Mama oder meiner Schwester?", fiel ich ihr ins Wort.
"Mir wurde gesagt, dass sie sehr impulsiv sind und zu aggressiven Handlungen tendieren, deshalb erfahren sie den Grund erst außerhalb der Haftanstalt. Dort werden Sie bereits von Herrn Akkouche erwartet. Passen Sie bitte auf sich auf und denken Sie daran, Sie sind immer noch Häftling. Bis in drei Tagen. Auf Wiedersehen Herr Balovatsky."

Kaum hatte sie das letzte Wort gesagt, stand sie auf und verließ den Raum. Es verging keine Minute da wurde ich auch schon von einem Wärter abgeholt. Ich durfte ohne Handschellen zur Umkleidekabine gehen. Dort lagen meine Klamotten, die ich anhatte als ich hier eingesperrt wurde. Grinsend zog ich mir meine Klamotten an. Wow, das fühlte sich so viel besser an. Es war unbeschreiblich schön, nach mehr als zwei Jahren mal wieder die eigenen Klamotten zu tragen. Nachdem ich die vorläufigen Entlassungspapiere unterschrieben hatte trat ich lächelnd in die Freiheit. Eine Freiheit die nur drei Tage anhalten würde. Mein Lächeln verschwand jedoch als ich Husseins Gesichtsausdruck sah.
"Was geht ab Bratan?", begrüßte ich ihn und zog ihn in eine kurze Umarmung.
"Schön dich zu sehen Bruder. Komm steig ein. Wir müssen los.", meinte er und saß schon wieder im Auto.
"Kannst du mir bitte sagen was los ist? Was muss passieren, damit die mich hier raus lassen?", fragte ich neugierig und stieg ebenfalls ein.
"Du weißt es noch gar nicht?", fragte er und sah mich entsetzt an.
"Nee, die Anwältin meinte du erzählst mir das.", antwortete ich und sah ich Hussein erwartungsvoll an. Er schluckte schwer, sagte aber kein Wort. Insgesamt sah er nicht so gut aus heute. Was war los?!
"Bratan, mach nicht so. Sag es mir. Was ist mit Lilly? Wieso ist sie nicht hier?"
"Bleib bitte ruhig Bruder, okay? Lilly hatte vor zwei Tagen ne Überdosis und.."
"WAS?!", schrie ich und schlug mit der Faust gegen das Handschuhfach.
"Sie liegt auf der Intensivstation. Sie mussten ihr Naloxon spritzen um sie wieder zurück zu holen."
"Blyat! Seit zwei Tagen?! Wieso erfahre ich erst jetzt davon?"
"Du weißt das du nicht telefonieren durftest? Wie soll ich dich denn erreichen? Deine neue Anwältin hat so schnell gemacht wie sie konnte. Kennst doch die Behörden."
"Naloxon? Sie war fast tot?! Wann wurde sie gefunden?"
"Kurz bevor es zu spät war. Sie war schon blau."
"Fuck. Hast du sie gefunden?"
"Nein, dieser Tom."
"Ich bring ihn definitiv um."
"Reiß dich bitte zusammen im Krankenhaus."
"Jaja, weißt du warum sie das getan hat?"
"Nein Bruder. Sie ist nicht ansprechbar, dass einzige was sie die ganze Zeit schwach murmelt ist dein Namen. Sie sagt immer nur Vladislav."

Es zeriss mir das Herz. Ich konnte nicht wirklich sagen ob meine Wut oder Trauer überwog. Warum hatte sie das getan? Was war der Grund gewesen? Ich? Warum hatte keiner auf sie aufgepasst? Würde sie jemals wieder ansprechbar sein? Ich hatte gewusst, dass sie sich immernoch Heroin spritzte. Als sie mich das erste Mal im Knast besucht hatte, hatte ich die frischen und alten Einstiche an ihrem Arm bemerkt aber ich wollte sie nicht darauf ansprechen. Noch nicht. Hätte ich es doch tun sollen? Oder hätte ich es Hussein sagen sollen?
"Hast du gewusst, dass sie Heroin abhängig ist?", fragte mich Hussein und ich nickte leicht.
"Ich kenne sie besser als mich selbst Bratan. Außerdem hab ich's an ihrem Arm gesehen als sie mich besucht hat."
"Warum hast du es mir nicht gesagt?"
"Ich weiß es nicht. Sind wir bald da?"
"Ja, das Krankenhaus ist gleich da vorne."
"Beeil dich mal Bratan.", meinte ich und sprang aus dem Auto sobald er geparkt hatte. Gemeinsam rannten wir zum Krankenhaus und hetzen durch die Gänge bis wir auf der Intensivstation ankamen. Vor einem der Zimmer stand ein blonder Typ. Ich starrte ihn an.
"Ist er das?", fragte ich Hussein leise. Hussein nickte nur. Das reichte mir als Bestätigung und ich rannte los.
"Vladislav nicht!", schrie Hussein noch, doch es war schon zu spät. Genau in dem Moment als Tom sich umdrehte rammte ich ihm meine Faust mitten ins Gesicht. Man konnte hören wie seine Nase brach. Er schrie auf wie ein Mädchen und hielt sich die Nase. Vergeblich versuchte er die Blutung zu stoppen.
"Pass wenigstens auf sie auf, wenn du mir sie schon weg nehmen willst du Hund!", schrie ich ihn an und holte zu einem weiteren Schlag aus. Mittlerweile hatte Hussein mich eingeholt und zerrte mich von ihm weg:
"Lass gut sein Bruder. Musste das jetzt sein? Der ist es nicht wert."
"Lass mich! Ja. Dieser Bastard hat noch viel mehr verdient."
"Hör auf jetzt! Du bist nicht wegen ihm hier."

Meine Welt ist kalt... | Capital Bra FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt