Kapitel 39

17 1 0
                                    


Normalerweise handelte Nanako nicht so amateurhaft. Ich meine, er rannte durch einen schmalen Gang ohne Ausweichmöglichkeiten auf mich zu. Ich war bewaffnet und es war ihnen vermutlich auch klar, dass ich nicht zögern würde zu schießen.

Ich warf noch einen letzten Blick auf den Mann, der mittlerweile zusammengebrochen war und den Fußboden vollblutete. Einmal feuerte ich noch auf ihn, als Genugtuung dafür, dass er mich so unsanft gefesselt hatte.

Dann wirbelte ich schnell herum, weil ich bemerkte, dass ich Nanako und den anderen den Rücken zugekehrt hatte.

Das Bild, das sich mir bot, hatte ich ansatzweise leider schon befürchtet.

Nanako stand jetzt mit dem Rücken zum Fenster und hatte Ami wie ein Schild vor sich gezerrt, der sie zusätzlich noch eine Pistole an die Schläfe hielt. Naoki hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an dem großen Schreibtisch fest, aus einer Schusswunde an seinem Bein sickerte Blut. Seine Waffe lag neben ihm auf dem Boden.

Warum hatte ich nicht besser nachgedacht? Es war doch gar nicht Nanako's Art, solche Fehler zu machen! Uns warum hatte ich den Schuss nicht gehört? War er etwa einfach in meinen eigenen untergegangen?

Mein Blick fiel auf den Schalldämpfer an dem Lauf von Nanako's Waffe. Natürlich. Jetzt machte alles einen Sinn. Auch wenn ich mich fragte, bis zu welchem Punkt sie all das geplant hatte. Gehörte es ebenfalls zu ihrem Plan, dass ich es geschafft hatte aus dem weißen Zimmer zu entkommen, oder wollte sie mit dieser Aktion eigentlich Naoki ablenken, den sie jetzt anders außer Gefecht setzen musste? Und zwar mit der Waffe mit Schalldämpfer... wo hatte sie die überhaupt her? Bevor ich mich umgedreht hatte, war sie noch unbewaffnet gewesen, da war ich mir sicher.

Aber das tat im Moment auch nichts mehr zur Sache.

Ich trat einen Schritt zurück und schloss die Tür hinter mir, jedoch ohne mich umzudrehen. Wer weiß, was Nanako sonst noch eingefallen wäre.

Was hatte sie eigentlich davon abgehalten, mir in den Rücken zu schießen, als ich ihr diesen zugekehrt hatte?

„Du bist ein schlauer Junge, Yusei", sagte Nanako lächelnd, „du hast nur einen großen Schwachpunkt. Und zwar, dass du dich trotz deiner Gabe für Details viel zu schnell ablenken lässt. Vermutlich hängt das auch irgendwie zusammen. Und du sorgst dich viel zu sehr um andere. Wenn du nur für dich kämpfen würdest, könntest du viel erreichen. Wir könnten viel erreichen, wenn du dich mir anschließen würdest."

„Nein, danke", erwiderte ich und konnte den sarkastischen Unterton in meiner Stimme nicht komplett unterdrücken. Warum musste sie sich auch so sehr des Klischees bedienen? In jedem zweiten oder dritten Film – nicht, als ob ich das gezählt hätte oder so – versuchte der Bösewicht den Hauptcharakter auf seine Seite zu ziehen und machte dieses Angebot, welches dann immer abgelehnt wurde. Moment mal. Machte das mich dann zu dem Hauptcharakter?

Warum machte ich mir überhaupt Gedanken über etwas so Belangloses? Ich hatte doch weitaus Wichtigeres zu tun.

„Mir war klar, dass du das sagen würdest, aber ich bedauere es dennoch. Wir hätten ein tolles Team abgegeben."

„Das wage ich zu bezweifeln, Nanako."

Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ich sie so nannte. Stattdessen lächelte sie immer noch. Ich bekam Lust dazu, ihr dieses blöde Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, wie die Scheibenwischer Regen von einer Windschutzscheibe.

„Weißt du, Yusei, ich finde, dass dich deine Gabe zurückhält. In die Vergangenheit sehen zu können, bringt dir nichts. Aber dennoch passt es irgendwie zu dir. Du lebst schließlich nicht richtig im Hier und Jetzt, sondern immer noch im Vergangenen. Genau wie Tsuya, der seine Vergangenheit verloren hat und keine andere Wahl hat, als für seine Zukunft zu leben. Nur bei dir, Sayako, bin ich mir nicht sicher. Lebst du wirklich als Einzige von euch dreien in der Gegenwart?", bemerkte Nanako und ließ ihren Blick über uns gleiten.

Diesen Augenblick wollte Ami benutzen, um sich aus ihrem Griff zu befreien, doch Nanako legte ihr blitzschnell die Hand auf die Stirn, Ami's Augen schlossen sich und sie schlief ein. Dasselbe hatte sie vorhin auch bei mir gemacht. Das war dann vermutlich ihre Gabe.

„Was haben Sie mit ihr gemacht?!", brachte Naoki mit vor Wut und Sorge erstickter Stimme heraus. Er zog sich an dem Tisch entlang näher auf die beiden Frauen zu, wobei er sein verletztes Bein hinter sich her schleifte.

„Keine Sorge, sie schläft nur. Noch", fügte sie hinzu und für einen kleinen Augenblick verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, das sich in eine eiskalte Maske verwandelte. Doch dann lächelte sie Naoki wieder an, ungeachtet der Tatsache, dass er sie geschockt anstarrte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Tsuya geduckt um den Tisch schlich. Ich sah unauffällig zu ihm und er nickte in Richtung von Naoki's Pistole, die immer noch auf dem Boden lag. Da verstand ich, was er vorhatte. Ich nickte ihm kaum merklich zu und wandte mich wieder Nanako zu. Ich trat einen Schritt auf sie zu, hob meine Waffe an und richtete sie auf die Frau, die immer noch die Maske trug, die ihr Gesicht bedeckte.

„Yusei." Sie grinste mich überlegen an. „Was soll denn das werden? Du willst doch deine liebe Onee-chan* nicht etwa in Gefahr bringen?"

„Vielleicht bin ich ein besserer Schütze als Sie annehmen?", erkundigte ich mich mit einem leisen Lächeln auf den Lippen.

Sie sah mich direkt an und damit hatte ich mein Ziel erreicht. Im Moment konzentrierte sie sich nur auf mich und somit hatte Tsuya die Möglichkeit, sich die Waffe zu schnappen.

„Lassen Sie Ami gehen!", rief Tsuya in diesem Augenblick. Er stand aufrecht, mit der Pistole in der Hand, die er ebenfalls auf Nanako gerichtet hatte. Seine Hand zitterte und ich hoffte, dass ihr das nicht auffallen würde, auch wenn ich vermutlich umsonst hoffte.


Fortsetzung folgt ...

*Onee-chan ist in Japan eine Anrede für ältere, weibliche Personen

Gibt es ein Licht am Ende des Tunnels?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt