Leseprobe

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27. November 1812, Clogherhead, County Louth, Irland



Das alte Steinhaus schlummerte auf dem Hügel, der hoch über das nahe gelegene Dorf ragte und eine atemberaubende Aussicht über die östlichen Klippen gewährte. Ein prachtvoller Garten, dessen Reichtümer um diese Jahreszeit kaum Blüten trugen, schmiegte sich um das mit Rissen überzogene Gemäuer. Wind rüttelte an der morschen Holztür, ganz so als wollte er sie aus den Angeln reißen. Durch das kleine Fenster der Stube war der Schein einer Kerze zu erkennen, die nur noch schwach flackerte. Beinahe erloschen tropfte sie ihr Wachs auf den Tisch, wo es sich in den groben Holzrillen festsetzte.
       Rose legte die Feder nieder und betrachtete ihr Werk, blickte auf ihre Hände, verschmiert von Tinte. Das dazugehörige Fass hatte sie erst vor wenigen Minuten versehentlich umgestoßen. Nun sickerte die dicke Flüssigkeit in die Furchen und färbte sie blau.
      Ihre Mundwinkel zuckten vergnügt, während sie durch die Seiten blätterte und einige Worte und besonders treffliche Formulierungen abermals las. Endlich breitete sich Zufriedenheit in ihr aus.

Die Nacht ist nie still. Sie ist erschreckend.
Und ach so wunderlich.

Hastig warf sie einen Blick über die Schulter und stellte mit Erleichterung fest, dass die Schlafzimmertür verschlossen war. Über die vergangenen Stunden hatte sie die Anwesenheit ihres schlafenden Mannes vollkommen vergessen.

Frucht meiner so süßen Verzweiflung. Ein niemals endender Gedanke.

So sehr es ihn zu später Stunde in seine Traumwelt zog, so sehnte sie sich nach Tinte und Feder. Nach Worten, denen mit ihrer Hilfe Arme und Beine wuchsen, ehe sie sich mit bloßen Körpern auf dem Papier räkelten.

Ein Spiegel, der mein Gesicht gefangen hält, mag mein Antlitz erkennen. Doch nur jener, der in tausend Stücke zerbrach, vermag meiner inneren Stimme zu lauschen.

Von tiefster Müdigkeit befallen erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster. Rote Locken fielen etwas wirr, wenngleich nicht minder reizend anzusehen über ihre Schultern. Kiran erinnerten sie an Laub im Oktober. Nicht selten, wenn sie beieinanderlagen, wickelte er sie spielerisch um seinen Finger. Sie sei so unberechenbar und wild wie der Herbst. Man wisse nie, wann er käme und alles sowohl mit Farbe erfülle als auch sterben ließ. Dennoch sei er so bezaubert von dessen Schönheit, dass er die herankriechende Kälte gern ertragen wolle.
Niederschreiben. Es war alles, was man tun konnte, um nicht verrückt zu werden.
      Sie erhob sich, schob lautlos den Stuhl zurück und strich die zahlreichen Röcke glatt. Das Spiegelbild mochte das einer jungen Frau sein, doch innerlich fühlte sie sich wie ein verhutzeltes Weiblein, dessen Falten die Erinnerung an ein langes Leben zeichneten. Umso seltsamer kam ihr bei Zeiten vor, was Kiran in ihr sah. Er erblickte nur die Hülle, welche zwar wunderbar anzusehen war, jedoch nur über den Trubel hinwegtäuschte, der allzeit in ihrem Kopf herrschte.
      Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es war die Standuhr, die drei Uhr schlug. Eine Stunde zu früh, wie sie bemerkte. Kiran hatte vor zwei Tagen versucht, das alte Ding zu reparieren. Dieses Experiment war offensichtlich von kaum nennenswertem Erfolg gekrönt.
Sie beugte sich über den Tisch und blies die Kerze aus. Schlagartig wurde die Stube pechschwarz und der herbe Duft von abgebranntem Docht kitzelte in ihrer Nase.
      Die Tür fiel hinter ihr knarzend ins Schloss. Rose spürte die eisige Kälte der Novembernacht kaum, obwohl sie unerbittlich an den Kleidern riss und das Gehen erschwerte. Kein Ort inspirierte sie so sehr wie der Garten, voll von Blumen, die genauso schön waren wie sie selbst. Ebenso fragil und ungehört, wie die tintenblauen Worte, die sie zu Papier brachte.
      Sie lief durch das halb geöffnete Gartentor, immer weiter den Hügel hinab, bis sie den Rand des Waldes erspähen und das beruhigende Plätschern des Flusses vernehmen konnte. Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde ihr Kopf ein wenig leichter. Als sie zwischen den Bäumen verschwand, war ihr als wüchsen mächtige Schwingen aus ihren Schulterblättern.

Band 1: Seelenrose (ehem. Apfelblau und Tintenrot)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt