Unbekannte

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Capi war schon ein wenig stolz auf sich, als er fast pünktlich mit seinem weißen RS6 vor ihrem Haus hielt. Fünf Minuten nach zählte doch wohl noch als pünktlich genug, oder? Das war wahrscheinlich pünktlicher als er jemals zuvor gewesen war. Natürlich würde er nie zugeben, dass er sich extra für sie so angestrengt hatte. Falls jemals jemand fragen sollte: Es war natürlich reiner Zufall, dass er heute beinah pünktlich gewesen war. Während er aus dem Auto ausstieg, spielte er kurz mit dem Gedanken zu klingeln. Er hätte gern gewusst wie sie lebte. Mit wem sie lebte. Aber wie würde das denn aussehen? Wer klingelte denn heutzutage noch? Stattdessen tippte er ein kurzes 'Bin da' und lehnte sich gegen die Beifahrertür. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete.

Kurze Zeit später öffnete sich bereits die Haustür und sie trat nach draußen. Die Zigarette verharrte einen Augenblick irgendwo mitten in der Luft, während seine Augen über sie wanderten. Sie trug ein königsblaues, enges, hochgeschlossenes Chiffonkleid, das knapp über ihren Knien aufhörte und den Blick auf ihre schmalen Beine freigab. Passende Pumps, ein dunkelblauer Mantel darüber und ihre Haare... Beinah wäre ihm ein Knurren entfahren, während der Wunsch danach, durch ihre nun offenen, leicht welligen Haare durchzufahren, erneut in ihm aufstieg. Kräftig zu zupacken. Sie sah unglaublich aus. Beinah überirdisch und schien es nicht mal zu wissen. Er wusste, dass er starrte. Schon viel zu lang und dennoch hatte er das Gefühl, noch nicht lang genug geschaut zu haben. Gott, was war das nur mit dieser Frau?

Er zog noch einmal am seiner Zigarette, ehe er sie austrat. Als sie bei ihm ankam, zog er sie ohne darüber nachzudenken in einer kurze Begrüßungsumarmung. Kurz schien sie überrumpelt, ehe sie die Umarmung knapp erwiderte. "Schön, dass du Zeit hast", meinte er mit einem Grinsen, während er ihr die Beifahrertür öffnete. Sie lächelte ihn amüsiert an: "Deine Nachricht klang nicht so, als hätte ich absagen können." Er grinste breiter, hatte er doch genau das beabsichtigt. Wenn man nett fragte, konnte man ein Nein bekommen. Wenn man forderte, folgten die meisten. Sie ließ sich in den Sitz sinken, er schloss die Tür und setzte sich wieder hinters Steuer. "Du siehst übrigens umwerfend aus", sagte er, während er ausparkt. Zum ersten Mal wirkte sie verlegen. Sie schien widersprechen zu wollen, entschied sich aber offenbar dagegen und sagte nur leise: "Danke."

"Also Amalia...", begann er, wurde aber von ihr unterbrochen: "Du kannst auch Lia sagen. Eigentlich sagen alle nur Lia." "Ich mag Amalia und wenn alle Lia sagen, dann steche ich ja gar nicht heraus", erwiderte er ernst, grinste sie aber kurz schief an. Sie lachte leise: "Oh, glaub mir, du stichst deutlich heraus. Aber wie du willst, dann Amalia." Er warf ihr erneut einen nachdenklichen Blick von der Seite zu. Wie meinte sie das? Klar, er war mit Sicherheit nicht mal annähernd so gebildet und intelligent wie ihre Freunde und Familie. Eigentlich wusste er nichts über ihren Umgang, aber sie kam sicherlich aus besseren Kreisen. Stach er also heraus, weil er nicht ihr Niveau hatte? War das Kritik? Warum verunsicherte sie ihn so? Sonst hatte er doch immer ein riesiges Selbstvertrauen. Aber bei ihr... "Das ist etwas Gutes", fügte sie leise hinzu, als könnte sie seine Gedanken lesen. Er fühlte sich etwas ertappt, war aber gleichzeitig merkwürdig erleichtert.

"Ich bin übrigens eigentlich Vladislav. Aber das weißt du wahrscheinlich schon", sagte er schließlich nur. Sie nickte: "Hab ich gelesen. Keinen peinlichen Zweitnamen?" "Findest du nicht, dass Vladislav lang genug ist?", fragte er lachend. Er hatte nichts gegen seinen Vornamen, aber er hätte eben auch weniger sperrig sein können. "Oh, für mich schon, aber meine Eltern würden das ganz anders sehen. Unter drei Namen geht da gar nichts. Meine Brüder heißen beispielsweise mit vollem Namen Tristan Valentin Hugo und Magnus Benedikt Clemens... Da hätte auch einer dieser Namen ausgereicht", erwiderte sie trocken. Puh, das war übel. Gleich drei Namen, die alle eher... speziell waren.

"Und du?", fragte er schließlich nur und warf ihr erneut einen neugierigen Blick zu. Sie seufzte leise: "Hatte gehofft, die Namen meiner Brüder lenken dich von mir ab. Aber gut... Amalia Charlotte Helena." "Die schöne Helena... Wie bei, du weißt schon... Troja", rutschte es ihm heraus ehe er es verhindern konnte. Die schöne Helena, die einen Krieg ausgelöst hatte. Passender hätte man die junge Frau neben ihm nicht beschreiben können. Wegen ihr könnte man auch Kriege führen. Sie sah ihn erstaunt an: "Du hast die Ilias gelesen?" "Die was? Ähm... Nein, ich habe den Film gesehen. Weißte? Mit Brad Pitt?", antwortete er beinah verlegen. Hätte er sich ja denken können, dass es auch noch ein Buch gab und sie das eher kannte. Sie sah komischerweise ebenfalls verlegen aus: "Oh, natürlich. Den habe ich auch gesehen. Guter Film." Kurz herrschte eine peinliche, unangenehme Stille. Da war es wieder: Zwei Welten, die wahrscheinlich nie wirklich zusammenpassen würden. "Was ist das? Diese Elias? Ein Buch?", fragte er schließlich in die schwere Stille. Sie zögerte kurz, neigte den Kopf leicht von rechts nach links und meinte schließlich: "Ja, schon irgendwie. Die Ilias ist sozusagen eine der literarischen Vorlagen für den Film Troja. Man vermutet, dass sie etwa im 8. Jahrhundert vor Christus von Homer, einem griechischen Dichter, bei dem man aber nicht sicher ist, ob es ihn tatsächlich gegeben hat, verfasst worden ist. Ihm schreibt man übrigens auch die Odyssee zu."

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